
Alle Befürchtungen nach dem Entfall unseres eigentlich geplanten Nachtzugs nach Hamburg, ob wir den Hamburger Hafen noch rechtzeitig erreichen würden, lösten sich in Luft auf, als wir völlig unerwartet sogar mit einigen Minuten Verfrühung am Hauptbahnhof eintrafen. Nachdem unser Hafenshuttle erst eine gute Stunde später losfahren sollte und ich leider aufgrund meiner großen Fußproblematik nicht wie ich es sonst selbstverständlich immer gemacht hätte, in der Stadt rumlaufen konnte, verbrachten wir die Wartezeit in der Bahnhofshalle und einem Schnellimbiss.

„Mögt Ihr Bier oder Schnaps?“ wurden unsere Jungs gleich augenzwinkernd gefragt, als sie an den Tresen Platz genommen hatten, um einen besseren Blick auf das gerade laufende Fußballspiel Stuttgart gegen Freiburg erhaschen zu können. Die Kneipenkollegin fragte kurz danach völlig zu Recht die Zwillinge: „Wo sind denn eure Eltern?“, worauf ich mich sofort hinter ihnen vom Stuhl am Nachbartisch erhob. Darauf erzählten mir diese, dass es immer wieder Eltern gäbe, welche ihre Kinder unfassbarer Weise einfach bei dem Tresen „abgeben“ würden und sich dann für eine kinderlose Shoppingtour oder was auch immer für eine geraume Zeit verabschieden würden.

Dies war bei uns natürlich nicht der Fall, auch wenn ich immer wieder während der Reise zumindest den Abgebwunsch aufgrund extrem anstrengenden Betragens der Kinder zumindest nachvollziehen kann…So aber bestiegen wir halbwegs pünktlich das Schiff, nachdem davor noch ein plötzlicher Generalalarm am Hafengebäude für größere Unruhe und Irritationen gesorgt hat. Nach einem Seetag erreichten wir schließlich mit Danzig den ersten unserer Zielhäfen.

Meine Nacht war wie gewohnt viel zu kurz gewesen, da diese nicht nur durch nächtliche Traubenzuckergaben und anschließendem Zähneputzen – hatte das spät abendliche heißgeliebte Training auf dem Laufband die Blutzuckerwerte bei den Jungs leider zu sehr runterrauschen lassen – unterbrochen war, sondern ebenso von meinen großen Befürchtungen, kein Rad ergattern zu können, da ich aufgrund der immer noch schlimmer werdenden Fußschmerzen nicht in der Lage gewesen wäre, zu Fuß die Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt abzuklappern.

So gelang es mir immerhin zu viel zu früher Zeit für uns drei Fahrräder zu organisieren, obwohl der dunkelgraue Himmel mit dichten Regenwolken nichts Gutes verhieß.

Unsere mühsam beschafften Fahrräder sollten uns zunächst keine große Erleichterung liefern, führte doch offenbar der einzige Weg vom Cruise Terminal Gdansk über eine Vielzahl von Treppen bis zu dem Denkmal der Westerplatte hinauf, bei dem ich – im Gegensatz zu den Zwillingen -meine liebe Mühe hatte, das schwer beladene Fahrrad jede einzelne Treppe einzeln hochzutragen und gleich zeitig mich humpelnd nach oben zu bewegen.

Hätte ich den Söhnen normalweise lautstark aufgetragen, nicht so weit vorzupreschen und auf mich zu warten, unterließ ich es an diesem Ort tunlichst, meinen Mund auch nur für ein einziges deutsches Wort zu öffnen. Zu groß ist auch noch so viele Jahrzehnte danach das Entsetzen über den Beschuss der polnischen Stellung durch das deutsche Panzerschiff Schleswig-Holstein, welcher am 1.9.1939 den Beginn des zweiten Weltkrieges markierte.

Bereits am frühen Vormittag war diese bedrückende Gedenkstelle von sehr vielen polnischen Schulklassen gut besucht und das große Unbehagen steigerte sich noch einmal, als wir nach dem Erklimmen des Denkmals an dem Originalzustand aus Gebäuden dieser Zeit vorbeikamen. Zu dem Pietätsgefühl gesellte sich alsbald immer größer werdende Sorge um die Unversehrtheit der Jungs dazu, erwies sich doch das Umland von Danzig als andere als fahrradfreundlich. Hatte ich im Vorfeld von Danzig als Polens Fahrradhauptstadt gelesen, bangte ich nun jede Minute, dass einer von uns von den an uns vorbeidonnernden Lastwägen zerquetscht werden würden.

Etwas vor uns befand sich ein älteres Ehepaar, das sich auch vom Schiff zwei Räder orgnaisiert hatte und die sich wie wir bereits auf den ersten Kilometern vom Hafen aus öfters verfahren hatten. Schließlich kamen sie uns entfernt entgegen und verkündeten, dass sie nun doch mit dem Bus in das Zentrum von Danzig aufbrechen würden, was jedoch für mich aufgrund der extremen Fußschmerzen keine Option war. Endlich hatten wir den richtigen Weg gefunden, auch wenn dieser aufgrund seiner Lage direkt neben einer extrem stark befahrenen Fernstraße alles andere als idyllisch war, als das nächste Problem folgte: „Mama, mir tut der Arsch so weh. Das Loch in dem Sattel stört mich total!“, beklagte der Ältere. Entnervt verstellte ich den Sattel so gut es ging und legte ihm noch eine Jacke unter den Po, was leider nur für geringe Verbesserung sorgte.

Nur eine Minute später ertönte ein Insulinpumpenalarm: „Mama, jetzt bin ich im Unterzucker.“ konstatierte der Jüngere. „Wie sollen wir es nur in diesem Tempo in absehbarer Zeit in das etwa elf Kilometer entfernt liegende Zentrum von Danzig in dieser Geschwindigkeit schaffen?“ schoss es mir durch den Kopf, noch nicht ahnend, dass uns drei Kilometer weiter noch ein viel größeres Hindernis in den Weg gestellt werden sollte.

„Mama, da ist ein Zeichen, dass gar keine Räder fahren dürfen.“ Es gelang uns gerade noch, nicht noch aus Versehen auf die Autobahn abzubiegen und den Anweisungen des Navis zu folgen, das uns noch eine Weiterfahrt von drei Kilometer geradeaus bis zum nächsten Abbiegen angab, als wir plötzlich vor der gesperrten Brücke standen, welche auf viele Kilometer die einzige Möglichkeit darstellen sollte, den Fluss zu überqueren und in Richtung von Danzigs Zentrum zu gelangen. „Setzt euch mal auf die Bank und ruht euch ein wenig aus“, rief ich den Söhnen zu, während ich wieder ein Stück zurückfuhr, um nach Brückenersatzalternativen zu suchen.

Mühsam hatte ich schließlich eine öffentliche Verkehrsmittelhaltestelle ausfindig gemacht und mit Händen und Füßen, nachdem keine/r der Anwesenden auch nur ein Bröckchen Englisch oder Deutsch verstand, geschweige denn sprach, eruiert, welche der vielen Buslinien in das Stadtzentrum fuhr. Nach einer geraumen Wartezeit, welche ich in den zeitintensiven Kauf gültiger Tickets inklusive der Fahrradmitnahme investiert hatte, näherte sich endlich der Bus 111, welcher natürlich nicht größer als unsere deutschen Busse waren.

„Wie sollen wir da drei Fahrräder unterbringen?“ überlegte ich fieberhaft. Aber immerhin sei ja die Fahrradmitnahme laut Piktogramm in öffentlichen Verkehrsmitteln gestattet. Wir wuchteten ein Rad nach dem anderen in den Bus und tatsächlich passten sie sogar alle nebeneinander. Die Erleichterung währte nur einen ausgesprochen kurzen Augenblick, als der Busfahrer mit lauter Stimme durch den Bus donnerte. Auch wenn ich kein Wort verstand, konnte ich bereits den Grund des Stehenbleibens des Busses erahnen, welchen mir einer der Fahrgäste dann in gebrochenem Englisch bestätigte. „Only one bike in a bus.“

Ich war den Tränen nahe. Wir stiegen wieder aus. Die Zeit schritt unerbittlich weiter und wir hatten außer ausgesprochen hässlichen Industrie- und Hochhausbauen sowie Fernlastverkehr noch nichts gesehen. Alle meine weiteren Versuche, Einheimische nach einer Wegalternative zu fragen, fielen ob des Fehlens eines gemeinsamen Sprachnenners fehl, bis wir schließlich an einen jüngeren Mann mit zwei kleinen Dauerkläffern gerieten, welcher das Wort „ferry“ hervorpresste und uns einen Weg nach links deutete.

Nach einigen zuviel gefahrenen Metern – wies doch kein einziges Schild den Weg zu der beschriebenen Fähre, welche außer von der dortigen Bevölkerung mit Sicherheit auch von niemandem genutzt werden wird – durften wir tatsächlich das rettende Schiff betreten und nutzten die Wasserüberquerung mit dem Schiff anstatt über die Brücke, welche noch für geraume Zeit gesperrt zu sein schien. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir noch in Danzig ankommen.“ stießen die Zwillinge kurz hintereinander erleichtert aus, als wir -leider bei einsetzendem Regen endlich Danzigs Stadtzentrum trotz aller Widrigkeiten erreicht hatten.

Die dortigen beiden Drehbrücken, von denen die größere stets eine halbe Stunde nach oben gefahren wurde, um den Schiffsverkehr passieren zu lassen, übten eine große Faszination auf die Jungs aus, so dass ich ihnen zuliebe aus zeitlichen Gründen auf den Besuch des Museums des Zweiten Weltkrieges verzichtete und nur von außen den im Jahre 2017 eröffneten Bau bewunderte. Dieses Museum stellt als einziges europaweit den Krieg im europäischen Zusammenhang konsequent aus der Sicht der leidenden Zivilbevölkerungen dar und ist von zahlreichen Besuchsgruppen aller Altersgruppen intensiv besucht worden.

Wir radelten indes zu einem anderen Superlativ, dem größten Backsteingebäude der Welt, in Form der Marienkirche. In dieser beeindruckte uns mit am meisten die astronomische Kunstuhr. Das Krantor, das bekannteste Wahrzeichen der Stadt, durften bei unserer Radrundfahrt selbstverständlich ebenso wenig fehlen wie diverse weitere Kirchen, unter anderem auch die Katharinenkirche, und die Langgasse mit dem reichlich verzierten Rathaus und dem Neptunbrunnen.

Durch die Frauengasse mussten wir aufgrund des Kopfsteinpflasters die Räder schieben, hatten aber auf diese Weise einen sehr guten Blick auf eines der berühmten „B“‘s in Form der Beischläge (darunter versteht man die Treppen, welche den Aufgang zum Obergeschoß überhaupt erst ermöglichten, da man aufgrund der sumpfigen Beschaffenheit das Erdgeschoss überhaupt nicht nutzen konnte) dieser polnischen Stadt, welche man getrost als einen historischen Mikrokosmos für Osteuropa bezeichnen kann. Von den weiteren vier „B“s mit Bier, Backstein, Bernstein und der Blechtrommel bedauerte ich es einzig, dass wir es nicht mehr geschafft haben, nach Langfuhr zu fahren, wo es ein sehr sehenswertes Denkmal für Günter Grass seit 2015 gibt.

Dafür sahen wir sogar noch auf dem Rückweg, welchen ich für die Kinder deutlich attraktiver in Form einer Fährfahrt von der Innenstadt Danzigs zurück zu der Westerplatte, bei welcher man auch die Räder mitnehmen durfte – von weitem das relativ neu erbaute Stadion Gdansk, dessen Farbkonzept sich an dem wundervollen Gelb des Bernsteins orientiert. Auch wenn wir von der berühmten Dreistadt mit dem Seebad Sopot und Gdynia nur Danzig kennenlernen durften, waren wir von dem Mix an ganz modernen und (nach altem Vorbild der Kaufmannszeiten) wieder rekonstruierten Gebäuden ausgesprochen angetan.

Sollte das Wetter in den ersten Tagen unserer Baltikumsreise deutlich kühler und schlechter als im warmen Bayern zu der selben Zeit sein, durften wir immerhin am Abend nach dem Tag in Danzig einen herrlichen Sonnenuntergang genießen, von dem wir einige Abend danach aufgrund des wolkenverhangenen Himmels auch noch zehren mussten.

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