Kopenhagen, Kanäle, Kalorienverdoppelung, Königsschloss, Kran, Kaviar

Konnte ich in der Nacht zuvor noch einem sehr netten Mutter-Sohn-Gespann – wobei es sich bei dem Sohn um einen immerhin bereits auf die 60 Jahre zugehenden zur Zeit arbeitslosen Hamburger Pförtner handelte – ausnahmsweise bei technischen Problemen, nämlich beim Herunterladen und Bezahlen der Kopenhagener App für öffentliche Verkehrsmittel behilflich sein, die ich zur später Stunde auch für uns selbst sicherheitshalber runterlied, lohnte sich glücklicherweise an unserem letzten Landgangstag unser extrem frühes Aufstehen und wir ergatterten noch drei Räder. Leider erwischte ich allerdings dabei das Rad Nummer 3, das unser lieber Älterer am ersten Tag in Danzig hatte und bei dem er über solche starken Poschmerzen klagte, was ich nun mehr als gut nachvollziehen konnte.

Gilt Kopenhagen doch mit als die fahrradfreundlichste Metropole von ganz Europa, gestaltete sich das Radfahren mit den beiden Söhnen als alles andere als entspannt. Mal fuhren sie auf der falschen Seite, mal zu weit links und ich hatte immer das Gefühl, dass wir entweder zu schnell oder zu langsam fuhren. In Kopenhagen gibt es dermaßen viele Fahrradfahrer, dass man tatsächlich nicht nach links oder rechts beim Fahren schauen sollte, um noch einen Blick auf die Sehenswürdigkeiten zu erhaschen, sondern unabdingbar immer höchst konzentriert mit dem Strom „mitschwimmen“ sollte.

Und gerade die zahlreichen Lastenfahrradfahrerinnen und -fahrer brausten oft dermaßen rasant und rücksichtslos an uns vorbei, dass wir von einigen beinahe vom Rad gestoßen worden wären. „Halt dich rechts! Schau geradeaus! Langsamer!“ Ich konnte gar nicht oft genug Anweisungen geben. Und als ich gerade vom Stadtplan aufschaute, waren die Zwillinge plötzlich inmitten des Radfahrerstroms spurlos verschwunden.

Mein Herz raste, die Zeit drängte und auch wenn es nur wenige Minuten waren, fielen mir große Steine vom Herzen, als ich laut und deutlich die Stimmen der Jungs „Mama“ schreien hörte. Anders als bei mir schien der Schreck bei ihnen nicht tief zu sitzen, unternahmen sie doch kurz darauf wieder etwas Verbotenes, als sie mit großer Begeisterung entdeckten, dass sich der Kran an der Hafenpromenade tatsächlich noch mit größter Kraftanstrengung in alle Richtungen drehen lassen.

Sahen alle Radsattel auf den ersten Blick gleich aus, spürte ich doch an dem Kopenhagentag einen signifikanten schmerzlichen Unterschied zwischen den einzelnen Satteln. Dennoch besuchten wir das königliche Schloss Amalienborg und fuhren nach dem obligatorischen Besuch der kleinen Meerjungfrau zum größten „Aufsteiger“stadtviertel von Kopenhagen, Nørrebro. Dort locken gleich drei Speicherseeen zum Tretbootfahren ein, was wir aus zeitlichen Gründen allerdings nicht machen konnten. Einer der größten Reize von Kopenhagen stellt die große Wassernähe dar und so sind die Kanäle, welche sich z.B. durch Christianshavn ziehen, besonders stimmungsvoll.

Auch wenn es etwas merkwürdig klingt, war die Hauptattraktion unseres Kopenhagentages der Besuch der Müllverbrennungsanlage Copen Hill. Ein Vergnügen, das keinen Cent kostet und von dessen Spitze man einen grandiosen Ausblick auf ganz Kopenhagen hat. Nachdem der dänische Architekt Bjarke Ingels höchst erfolgreich das Meeresschwimmbad Islands Brygge entworfen hat, schuf er nun aus der gigantischen Müllverbrennungsanlage Copen Hill ein wahres Gesamtkunstwerk.

So kann man auf dem 85 Meter schrägem Dach Skifahren oder aber auch nur den Blick auf die Öresundbrücke und ganz Kopenhagen genießen. Aufgrund der Aufzugsangst unseres Älteren quälte ich mich alle Stufen auf diesen ganz besonderen Hügel hoch. Danach wären die Jungs am liebsten unverzüglich auf das Schiff zurückgekehrt und ich hatte meine liebe Mühe, sie noch etwas für weitere Stadterkundigungstouren bei Laune zu halten. Die Fahrt durch den Freistaat Christiania, durch den nach wie vor intensive Haschischschwaden ziehen und der sich ja bekanntlich vor über 50 Jahren aus einem herausgeschnittenen Zaunloch im verlassenen Militärgelände neben Christianshavn rasant entwickelt hat, zu der Erlöserkirche wurde „belohnt“ durch das Erleben eines Begräbnisses der anderen Art.

Ich traute meinen Ohren nicht, als wir schon weit vor Erreichen dieser unverwechselbaren Kirche mit dem vergoldeten Korkenzieherturm Menschentrauben mit Bier- und Schnapsflaschen in der Hand, begleitet von laut tönender AC/DC-Musik erblickten. Unzählige Menschen, alle sehr alternativ und kaum einer in Schwarz gekleidet, dafür von einer ausgesprochen intensiv riechenden Marihuanawolke weiträumig umhüllt, liefen dicht gedrängt hinter dem Leichenwagen mit einem weißen Sarg von der Erlöserkirche in Richtung Christiania.

Der gesamte Zug wurde von einem dänischen Filmteam aufgezeichnet. Wir kennen nicht die näheren Todesumstände des oder der Bewohnerin (höchstwahrscheinlich aus Christiania), aber das gesamte Begräbnis verlief tatsächlich komplett anders  als es unseren gewohnten Konventionen entspricht. Wir blieben noch einige Zeit möglichst pietätsvoll vor der Kirche stehen, bevor wir nur noch sehr wenigen Sehenswürdigkeiten einen Besuch abstatteten, so z.B. auch der Oper, welche im Volksmund „der Toaster“ genannt wird und dem dänischen Staat vom reichsten Mann im Lande, den wir Deutschen alle von den Lastwägen auf den Autobahnen kennen, welche die Aufschrift „Maersk“ tragen, geschenkt wurde.

Selbstverständlich hielten wir uns auch ganz kurz in dem malerischen, aber hoffnungslos überlaufenem Nyhavn auf und fuhren an Schloss Rosenberg vorbei. Aufgrund immer größeren Schlafmangels waren die Jungs an Bord relativ überdreht und ich musste die Energien in möglichst vernünftige Bahnen lenken. Dabei gefällt den beiden das Essen und Trinken ja immer gut. Und nachdem die Berechnung der selbstgemixten Cocktails hervorragend gelaufen war, ging es gleich nahtlos zum Büffetschlemmen weiter.

Als ich völlig überfressen, mit zweierlei Hauptgerichten, Desserts, Eis und Schokolade sowie vielem mehr im Magen mit den Jungs zum siebten Deck lief und dem Älteren gerade noch die zusätzlich zu bolende Insulinmenge für das letzte verdrückte Pizzastück zugerufen hatte, fiel mein Blick auf die neu aufgestellte Personenwaage vor den Aufzügen, welche ich davor noch nie bemerkt hatte.

Ich erschrak erst einmal etwas und überlegte: „Wird man morgen nur von Bord unter einer gewissen Kiloanzahl gelassen oder wenn die Differenz des Gewichts bei Antritt der Kreuzfahrt und deren Ende nicht mehr als 5 Kilo beträgt?“ Weit gefehlt, die Waagen sollten offensichtlich keine Menschen vermessen, sondern nur als Orientierungshilfe für alle Koffer dienen, welche am Abreisetag noch in ein Flugzeug kommen sollten.  So konnte, zumindest kilotechnisch ein üppiges Frühstück für alle, wenn auch zu viel zu früher Uhrzeit, da wir das Schiff bereits weit vor 9.00 Uhr verlassen mussten und ich erst nach Mitternacht zum Kofferpacken gekommen war, nichts mehr im Wege stehen.

Allerdings sollte zumindest bei einem von uns das Frühstück nicht in seiner Gesamtheit im Magen bleibe. Wie sehr sorge ich mich immer, dass es den Jungs, insbesondre dem Jüngeren, nicht schlecht wird. Alle paar Minuten beobachtete ich ihn genau im Reisebus von Kiel nach Hamburg sitzend und war beruhigt, dass seine Gesichtsfarbe in keiner Weise aus seinem Gesicht entwich. Als beide Jungs ein wenig später Kopf an Kopf den verpassten Nachtschlaf auf meinem Schoss nachzuholen versuchten, war ich überzeugt, diese etwa 90-minütige Busfahrt ausnahmsweise ohne irgendwelche Zwischenfälle überstanden zu haben.

„Mama, mir ist so schlecht.“, ertönte in diesem Moment das dünne Stimmchen unseres Jüngeren und ich durchwühlte panisch all unser Gepäck auf der Suche nach einer Tüte. Ehe ich das Gesuchte zu Tage befördert hatte, befand sich jedoch leider schon ein Teil des Frühstücks auf dem Teppichboden des Busses. Dies war mir natürlich unendlich unangenehm, ich putzte und wischte so gut es nur irgendwie ging, hätte jedoch sehr gerne auf die wüsten Beschimpfungen der Busfahrerin verzichtet, welche ankündigte, mir eine sehr teure Reinigungsrechnung zukommen zu lassen.

Bin ich ansonsten immer sehr sparsam, nutzte ich es aus, dass es beim Abendessen einmal Kaviar gab, den ich noch nie zuvor probiert hatte. Nun, was soll ich sagen. Ich denke, dass ich mich dadurch auch in keiner Weise eines kulinarischen Genusses beraubt habe. Mit Sauerrahm, Blinis, Zwiebeln sowie gestocktem Eiweiß und Eigelb war der Kaviar zwar essbar, aber genau diese Beilagen schmecken mir zu Kartoffeln wesentlich besser als zu dieser Störeierdelikatesse.

Weiß ich, dass ich Kaviar nun nicht mehr probieren werde, habe ich am vorletzten Abend einmal mehr gelernt, dass man Leute wirklich nie beurteilen sollte, ohne nicht mit ihnen gesprochen zu haben/sie ein wenig zu kennen. Im Laufe der Reise fiel uns immer wieder ein Ehepaar nicht unbedingt positiv auf, bei dem der Mann wohl schon zwischen 85 und 90 Jahre, seine Ehefrau ein beträchtliches Stück jünger war. Der Mann war offenbar gewohnt, dass ihm alles serviert und alle Alltagserledigungen abgenommen werden. Zudem schien er, wenigstens in bestimmten Situationen so schlecht zu hören, dass gefühlt das ganze Schiff mitbekam, wenn die Ehefrau zu ihrem Mann sprach.

Nun saßen wir just an diesem Abend, als Lose verkauft wurden, deren Gewinn zu einem Teil der Crew, zu einem anderen Teil karitativen Zwecken zugutekommen sollte, vor dem besagten Ehepaar. Als ich gerade die Blutzuckerwerte der Jungs kontrollierte, zuckte ich ein wenig zusammen, als sich die aufwändig gestylte Dame zu uns beugte und ich rechnete bereits damit, dass sie sich beschwerte, dass unsere Kinder zu laut wären oder ähnliches.

Umso erfreuter war ich, als sie mir nur folgendes sagte: „Ich möchte Ihnen nur sagen, wie toll ich es finde, dass es noch so wohlerzogene Kinder gibt.“ So positiv mental gestärkt, dachte ich, dass an diesem Abend ja wenig schief gehen könnte, rechnete aber nicht damit, wie sehr unser Älterer sein Herz an den Hauptgewinn, der Originalseekarte unserer Baltikumsreise als erstem Preis , verloren hatte. Wir lagen mit unseren Losnummern beim Ziehen des dritten Preises (ein Buch) sowie dem zweiten Preis (ein Handtuch) immer nur wenige Nummern daneben. Als schließlich die Nummer für den Hauptgewinn verkündet wurde, flossen plötzlich bitterste Tränen bei unserem Älteren. Es zerriss mir das Herz, ich nahm ihn natürlich sofort ganz fest in den Arm, aber er war untröstlich. Plötzlich kam die Dame von hinten noch einmal zu uns und drückte unserem Sohn ihren gewonnen dritten Preis in Form eines schönen Schiffbuches in die Hand.

Ich war völlig gerührt und unser Sohn vertiefte sich sofort in die Lektüre des Buches – er, der sonst eigentlich nie freiwillig ein Buch anfasst. Als ich mich am Ende des Abends noch einmal von ganzem Herzen bedankte, stellte sich heraus, dass unser Sohn von einem nicht ganz unbedeutenden Paar dieses Buch als Trost vermacht bekommen hat. Handelte es sich doch bei dem Mann um den Vorstandschef und Direktor (oder so ähnlich) der Bank für Wiederaufbau in Frankfurt. Und wiederaufgebaut wurde durch diese so liebevolle Geste auch unser Sohn zuverlässig und nachhaltig, der – wie sein Zwillingsbruder mir leider beim Auspacken wie immer so gut wie nicht geholfen hat – gar nicht schnell genug das Schiffsbuch aus dem Koffer geholt hat.

Viel zu schnell wurde ich nun wieder von dem gesamten Alltagsstress inklusive zahlreicher Wäscheladungen und vielen Problemen eingeholt. Abschied vom Schiff, Abschied vom Urlaub, jedoch leider in keiner Weise Abschied von den Fußschmerzen. Dennoch blicke ich mit großer Dankbarkeit auf diese ganz besondere Baltikumsreise zurück, auf der wir gerade auch menschlich, positiv wie negativ ausgesprochen viel gelernt haben und „nebenbei“ auch noch stolze sieben Länder kennenlernen durften.

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