
„Und ich möchte euch unbedingt in Tallinn auch noch das ein oder andere Szeneviertel zeigen.“ kündigte ich mit einem großen Bissen Zitronentarte im Mund den Jungs unsere Besichtigungsprogrammpunkte für die estnische Hauptstadt an. „Welches Zähneviertel?“, fragten die Zwillinge irritiert, verbinden sie doch damit auf dieser Baltikumsreise bereits zwei ausgefallene (glücklicherweise ganz reguläre Milch-) Zähne…

Von der White Night-Pool-Party, bei der gerade der Jüngere voller Hingabe mittanzte und sogar wenige Tage später in einer abendlichen Variété-show vom Moderator begeistert erwähnt wurde, dass er als schon als Zehnjähriger im katholischen Bayern das gesamte Lied von ACDC mitsingen könne, enthusiastisch Luftgitarre spielte und bei „Highway to hell“ als Höhepunkt in das Mikrofon der Frontsängerin grölen durfte, waren die beiden Jungs völlig übermüdet (fanden sie doch auch erst weit nach Mitternacht in das Bett). Und so lagen meine Nerven bereits mittags blank, als sich die Jungs ständig kabbelten und ununterbrochen ein „Lass mich!“ oder „Hör auf!“ auf beiden Seiten der Söhne ertönte.

Als wir dann noch über 90 Minuten der wertvollen Landgangzeit an Bord verloren, da anders als angekündigt, unerklärlicherweise plötzlich doch nicht die Fahrräder herausgegeben wurden, war unsere bzw. meine Stimmung an einem relativen Tiefpunkt angelangt. Tallinn ist eine bezaubernde Stadt, allerdings für Fußschmerzgeplagte nur semioptimal. Die Altstadt ist in eine Unter- und Oberstadt unterteilt und der Gang auf den Domberg, der estnisch mit dem wohlklingenden „Toompea“ – und sogar zum UNESCO- Weltkulturerbe zählt – bezeichnet wird, war für mich mit jedem Schritt auf dem Kopfsteinpflaster noch qualvoller. Dafür wurden wir oben angekommen mit einem bezaubernden Blick über die gesamte mittelalterliche Handelsstadt belohnt.

Und unser Jüngerer kam noch zu einem ganz besonderen Spielerlebnis, indem er inmitten der bestens erhaltenen Stadtmauern sogar zwei Partien Schach gegen einen knapp vierzehnjährigen Jungen bravourös für sich gewann. Ein Besuch der Alexander-Newski-Kathedrale durfte selbstverständlich bei unserem Besichtigungsprogramm ebenso wenig wie das Besichtigen des Rathausplatzes und der übrigen Altstadt fehlen. Zudem boten zahlreiche Traditionslokale in der Altstadt eine Zeitreise in das Mittelalter an, wie z.B. die olde Hanse, bei der auch alle Bedienungen ganz traditionell gekleidet waren.

Es war noch gar nicht so viel Zeit vergangen, aber ich konnte definitiv nicht mehr laufen, da jeder Schritt zu einer einzigen Tortur wurde. So mühte ich mich einmal mehr mit dem Einarbeiten des örtlichen Fahrradentleihsystems, das leider in jedem Land und jeder Stadt völlig unterschiedlich ist, ab, was nach mehreren erfolgreichen Versuchen schlussendlich klappte. Umso enttäuschter waren wir, dass es zwar gelungen war, einen Fahrradaccount zu kreieren, aber ausschließlich zwei Räder auf einen Account entleihbar waren.

Selbst wenn ich noch eine zweite Kreditkarte hinterlegen hätte können, wären wir nicht an ein drittes Leihrad gekommen, ist doch die Angabe einer Mobilfunknummer dabei obligatorisch und in unserer kleinen Reisegruppe bin ich die einzige im Besitz eines Handys. Ich überlegte fieberhaft, wie wir dennoch in das Rotermannviertel, das auf beeindruckende Weise alte Fabrikgebäude mit modernster Architektur miteinander vereint, und verschiedenen Szeneviertel gelangen könnten.

Da die Jungs auch zu Hause sich öfters damit vergnügen, zu zweit auf einem Rad durch die Gegend zu fahren, versuchten wir es gezwungenermaßen auch auf diese Weise durch Tallinns Neustadt, was aufgrund der Fahrradbeschaffenheit jedoch mehr schlecht als recht ging. Ich war ziemlich verzweifelt, da wir sicher nicht mehr so bald nach Estland kommen würden und es nun an diesen äußeren Umständen zu scheitern drohte.

Da kam es mir gar nicht so unrecht, als unser Älterer nach der Stadtmauererkundigung sowieso überhaupt keine Lust mehr auf einen weiteren Stadtrundgang an den Tag legte, so dass wir mühsam zu dritt mit zwei Rädern, mal auf die Tandemmethode, mal legte gerade auch der Jüngere einmal mehr sein sportliches Talent an den Tag und joggte neben uns her, zurück zum Schiff kehrten, wo ich extra noch einmal den Steward an der Sicherheitskontrolle fragte, ob es in Ordnung sei, dass unser Älterer sich allein bzw. mit einem neu gewonnen Freund etwa eine Stunde an Bord vergnüge, was dieser bejahte.

So brachen unser Jüngerer und ich, zwar in ziemlichem Zeitstress, aber guter Dinge, zur Erkundung der Szeneviertel auf. In all der Eile hatte ich meine Powerbank vergessen, das Handy wies aufgrund der vielen Fotoaufnahmen und des Downloadens der Fahrradapp beängstigend wenig Ladung auf, so dass ich mit dem Navigieren so sparsam umgehen musste, dass wir auf alle Fälle noch Zugriff auf die Radapp hätten, um am Schluss unsere Räder wieder ordnungsgemäß abzumelden.

So fuhren wir rasant in Richtung des Noblessner Ports und absolvierten vor lauter Eile erst einmal ein paar Extrakilometer mehr an Umweg, bevor wir zu dem Viertel gelangten, das wohl zur Zeit die dynamischste Entwicklung der Stadt durchmacht. Hatte ein Neffe von Alfred Nobel dort bereits vor mehr als 100 Jahren eine U-bootfabrik gegründet, gibt es dort nun interessante Neubauten, eine Craftbeer-Brauerei sowie ein ganz besonderes Szeneviertelambiente zu bewundern.

Nachdem wir kurz durch das Viertel Kalamaja geradelt waren, drängte die Zeit immer mehr, aber ich wollte unserem Sohn wenigsten noch einen „lost place“ in Form einer ehemaligen Stadthalle, die anlässlich der Olympischen Spiele 1980 in Moskau für die Austragung der Segelwettbewerbe errichtet worden war, zeigen. Mittlerweile ist dieser Bau so verfallen, dass wir ihn als erstes gar nicht als das gesuchte Bauwerk wahrnahmen und erst im zweiten Anlauf diese Ruinen von beachtlichen Dimensionen, von deren „Dach“ man einen wundervollen Blick auf das Meer hat, erreichten.

Wieder an Bord empfing mich unser Sohn bestens gelaunt, hatte er sich doch die gesamte Zeit mit Gustav beim neu erlernten Shuffleboardspiel erfreut, was allerdings einige der übrigen Passagiere nicht besonders amüsiert hatte, ist doch das Spiel von Minute zu Minute lauter geworden. So bekam ich unmissverständlich mit aller Härte gesagt, dass es untersagt ist, dass ein Kind allein dieses Spiel betreibt oder auch nur sich ohne einen Elternteil an Bord aufhält , so dass ich nur an allen anderen Häfen hoffen kann, dass man auf einen einzigen Fahrradaccount drei Räder ausleihen kann…

Die 15-minütige Busrückfahrtfahrt zum Schiff gestaltete sich dagegen für unseren Jüngeren als herausragend, waren doch die meisten Passagiere schon längst zurück an Bord und außer uns saßen nur noch ein kleines Grüppchen der Variété-Künstler, darunter auch der sechsfache japanische Jo-Jo-Weltmeister, im Bus, von dem unser Sohn ausgesprochen fasziniert war. Und so fasste er sich ein Herz und bat seinen angebeteten Künstler auf Englisch um ein Autogramm, worüber dieser sich sehr freute.

Danach ergatterte er gleich noch von einer Hula-Hoop-Künstlerin aus Barcelona sowie einer Akrobatin mit marokkanischen Wurzeln Autorgramme, welche er beim Abendessen unverzüglich voller Stolz seinem Bruder zeigte.

Schreibe einen Kommentar