Samstag, 14.00 Uhr: Die einzigen vier Tage in den gesamten Sommerferien, an denen ich keine Kinder zu bespaßen habe, setzte ich mich unter enormen Druck, möglichst viel zu schaffen. Morgen sollten der Vater mit den Jungs von ihrem Kurztrip an den Gardasee wieder zurückkehren und da ich mich wirklich etwas übernommen hatte mit dem Vorhaben, so viel es nur irgendwie geht, in diesen kinderlosen Tagen abzuarbeiten, hatte ich mir fest vorgenommen, wenigstens am letzten Tag, dem Sonntag, mich zu zwingen, einige Stunden dem von mir so geliebtem, jedoch leider völlig vernachlässigtem Lesen zu widmen.
Ich hatte gerade unseren Hund für den Nachmittagsspaziergang angeleint, da klingelte das Telefon. Beim Blick auf das Display begann mein Herz zu rasen, zeigte es doch die väterliche Handynummer an, der einzig dann anruft, wenn Gefahr im Verzug ist und so tönte es mir dann auch bereits zu Begrüßung entgegen: „Bei uns ist der Super-GAU passiert. Ich wollte ihm gerade das Mahlzeiteninsulin abgeben, aber man kann keine einzige Taste mehr auf der Insulinpumpe drücken.“
Glücklicherweise sind die Jungs mittlerweile schon so groß und die Technik so ausgefeilt, dass ich – ganz ohne den Vater involvieren zu müssen – alle 90 – 120 Minuten den Jungs Instruktionen geben konnte à la: „Jetzt stöpsle dich von der Pumpe ab und gib deinem Bruder 0,85 Insulineinheiten. Und was hast du gerade für einen Wert?“ Der Jüngere antwortete brav: „220“ „Dann gib dir gleich auch nochmal 0,3 Einheiten nach, da deine Pumpe ja nun aufgrund der ständigen Insulingaben verwirrt ist und von selbst deutlich weniger Insulin als benötigt nachschießt. Und dann ruf ich euch in einer Stunde wieder an und berechne euch das Abendessen. Achtet wegen der Insulinfaktoren auf alle Fälle, dass ihr vor 20.00 Uhr zu Abend esst, okay?“
So versuchte ich die Jungs während ihrer verfrühten Abreise mit nur noch einer einzigen funktionierenden Insulinpumpe, mit der alle zwei Stunden dem pumpenlosem Bruder Insulin verabreicht wurde, durch stündliche Telefonate mit den Jungs, sie mit möglichst nicht völlig eskalierenden Blutzuckerwerten durch die Fahrt zu bringen.
Als ich die Jungs spätabends bangen Herzens endlich wieder in Empfang nehmen konnte – der Ältere hatte unterdessen einen Altraumblutzuckerwert von über 400, hatte ich doch die gesamte Autofahrt vom Gardasee zurück nach München alles stündlich mit den Insulingaben telefonisch geregelt, wollte aber um 22.00 Uhr nach der letzten durchgegebenen Insulinkorrektur nicht noch einmal anrufen, um den eventuellen Schlaf der beiden nicht zu stören – versuchte ich durch weitere hohe Insulingaben die Blutzuckerwerte endlich wieder in einen akzeptablen Bereich zu bringen.
Als ich nachts um 3.00 Uhr vor lauter Sorgen und Aufregung immer noch hellwach im Bett lag, überlegte ich fieberhaft, wie denn plötzlich die Insulinpumpe so unwiderruflich ihren Geist aufgegeben hatte. Selbstverständlich kann es immer technische Probleme geben, aber meine mütterliche Intuition sagte mir, dass es hierfür noch einen anderen Grund geben müsse. Und es bedurfte keinerlei polizeilicher Ermittlungen oder einem besonders ausgeprägtem Detektivspürsinn. Mir reichte die Tatsache, beim nächtlichen Kofferauspacken plötzlich ein klitschnasses Insulinpumpenband in den Händen zu halten. Am nächsten Morgen fragte ich den Vater: „Warum ist denn das Pumpenband so nass geworden?“
Darauf bekam ich die ausgesprochen beunruhigende Antwort zu hören: „Also, er ist schon einmal allein ins Waser gegangen…“ (wie hatte ich ihn im Vorfeld inständig darum gebeten, dass er die Zwillinge wirklich nie unbeaufsichtigt schwimmen lässt…) und dann war die Pumpe und alles natürlich noch am Kind. Normalerweise müsste die Pumpe eine gewisse Zeit auch beim Schwimmen am Körper funktionsfähig bleiben, aber wahrscheinlich ist unserer Älterer dann doch zu lange geschwommen, zu tief getaucht, zu oft gesprungen oder was auch immer. Es blieb zudem auch völlig unklar, wie lange er völlig unbeaufsichtigt im Wasser war. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang noch lebhaft mit großem Schrecken an die Erzählungen unserer mittleren Tochter, die mir vor Jahren, als ich mit unserem Älteren aufgrund einer anderen Erkrankung für Wochen stationär im Krankenhaus bleiben musste und diese mir bei einem der Besuche brühwarm berichtete: “Wir waren heute mit dem Papa im Westbad. Der ist dann eingeschlafen und plötzlich haben wir eine Lautsprecherdurchsage gehört. Ein kleiner Junge in blauer Badehose (unser Jüngster war damals gerade zwei Jahre alte) sucht seinen Papa…”.
Das einzig Positive ist, dass die Insulinpumpenfirma (bei der ich in weiser Voraussicht bereits Mitte Juni zwei Ersatzpumpen nach dem Ausfüllen zahlreicher Formulare geordert hatte, die jedoch trotz mehrmaligem Nachhaken bis zum heutigen Tag noch nicht bei uns eingetroffen sind) immerhin mit dem Schicken der Ersatzpumpe zügig war, so dass ich dank einer Expresslieferung bereits vor dem Eintreffen der Zwillinge eine neue Insulinpumpe, bei der allerdings noch alle Basalratenprofile, etc. neu einprogrammiert werden mussten, in den Händen halten konnte.
Einen Tag zuvor hatte ich das Paradoxon erlebt, dass mich eine Massage – für viele doch der Inbegriff völliger Entspannung – deutlich mehr stresste als der anschließende Kofferkauf, obwohl dessen Nachhausetransport sich als nicht ganz unanstrengend erwies…Man stelle sich diesen abgebildeten Koffer – wie die Verkäuferin so schön durch den gesamten Laden schrie „in Übergröße“ (besser immerhin solch einen Koffer als Kleidung in diesem Maß zu benötigen…)- vor, der von mir mitsamt läufiger Hündin und Fahrrad in einem strömendem Gewitterregen vom Bahnhof quer durch unseren gesamtem Ort bis nach Hause lautstark von mir neben meinem Rad mitgerollt werden musste.
Jedenfalls war es ein wesentlich befriedigenderes Gefühl, am Ende des Tages, unter anderem einen neu erstandenen Koffer wohlbehalten mit dem Rad nach Hause gebracht und sich Stunden über Stunden durch den Papierwüst (wir renovieren gerade unser Wohnzimmer) gewühlt zu haben als sich dieser „Entspannungsmassage“ unterzogen zu haben. Da ich dem Gutschein zur selbigen nicht das gleiche Schicksal wie so vielen seit Jahren nicht eingelösten Gutscheinen – bei denen oft schon gar nicht mehr die jeweiligen Geschäfte dazu existieren – angedeihen lassen wollte, hatte ich bereits im Vorfeld nur halbherzig einen Termin zu einer solchen Ganzkörpermassage vereinbart.
„Irgendetwas stimmt hier nicht“, murmelte der Masseur redlich bemüht, aber zunehmend verzweifelt, als er sich mit öligen Händen an meinem Rücken massagetechnisch betätigen wollte. Er fuhr die Liege immer wieder ein Stückchen hoch, ein Stückchen runter, was jedoch in keiner Weise meinen Nacken entspannter werden ließ. Offenbar hatte er selten bis nie das Paradoxon erlebt, dass es bei einer gemeinhin als wohltuend empfundenen Auszeit bizarrerweise zu noch mehr Anspannung kommen kann. Mir schwoll jedenfalls im Laufe der Behandlung auf dem Bauch liegend immer noch stärker meine Nase an, bis ich kaum mehr Luft bekam und die gesamte Massagezeit nur bemüht war, dennoch halbwegs geräuschlos zu atmen, um keinen zu stören.
Die verfrühte Heimkehr der Männer aufgrund der kaputten Insulinpumpe und der Ärger über an vielen Stellen nicht entfernte Pflasterreste (aufgrund einer bereits beginnenden Pflasterallergie müssen wir gerade bei unserem Jüngeren immer akribisch alle Pflasterreste von dem alten Infusionsset entfernen, da, wenn dieser irgendwann extrem allergisch auf die darin enthaltenen Pflasterkleber reagieren würde, wir ja auf diesem Weg ihm kein Insulin mehr verabreichen könnten) und diverse andere mir zugetragenen „erstaunlichen“ väterlichen Aktionen trugen absolut nicht zu auch nur einer minimal gelösten Grundstimmung meinerseits bei.
Immerhin kam auf diese Weise der Warzenbehandlungsplan bei dem Älteren nicht durcheinander, hatte ich doch den Vater in die ganzen Behandlungsanweisungen in weiser Voraussicht gar nicht eingewiesen, sondern übernahm ich dann nach deren Ankunft sofort wieder die weitere – für zwei Tage ausgesetzte – Therapie.
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