Wie befreiend wäre es, Diabetes und Zöliakie wenigstens mal für 24 Stunden nicht als Dauerbegleiter an Bord zu haben. Dank dieser beiden chronischen Krankheiten bin ich tatsächlich immer mehr oder minder dauerangespannt. Das permanente Abwiegen jeder einzelnen Mahlzeit – und auf so einem Schiff wird bis zu sechsmal am Tag üppig gegessen – verbunden mit der Berechnung der korrekten Insulinmenge ist nervig, aber nach mittlerweile neun Jahre für mich zur absoluten Routine geworden.
Was mich hingegen stets aufs Neue extrem unter Stress setzt, sind sowohl alle technischen Ausfälle als auch extreme (unerklärliche) Blutzuckeranstiege- oder Abstiege. Normalerweise achte ich sehr darauf, dass wir das Abendessen an Bord relativ früh einnehmen, keinesfalls Softdrinks dazu getrunken werden, viel Salat und Gemüse die letzte Mahlzeit des Tages komplementieren und dass die Eisportionen nicht allzu groß ausfallen – was in den seltensten Fällen gelingt.
In den vergangenen Nächten durchliefen die Jungs auf alle Fälle immer sehr gute bis akzeptable Blutzuckerverläufe. Ganz anders als an dem Abend nach unserem Trondheimtag. Ich hatte den Zwillingen als große Ausnahme – sind sie doch stets von Kindern aller Altersgruppen, welche Fastfoodvarianten in jeder erdenklichen Form auf dem Teller haben, umgeben – glutenfreie Salamipizza bzw. Chicken Nuggets mit Pommes erlaubt.
Als Vorspeise verzehrten sie noch (glutenfreies) Brot mit allerlei Aufstrichen, eine Suppe, als Nachspeise gab es für unseren Zöli eine große Portion Milchreis – welche offenbar doppelt so süß war wie die von mir gekochte Variante – und für unseren Älteren eine große Portion Eis mit allerlei Toppings.
Bereits nach dem abendlichen kulinarischen Gelage bereute ich die Essensentscheidung zutiefst, da die Werte sehr stark gestiegen waren. Da sich die Jungs aber unbedingt noch ein spätabendliches Fußballspielen gewünscht hatten, hoffte ich durch die Aktivität auf eine blutzuckersenkende Wirkung. Leider hatte ich die Rechnung ohne den Wirt – die Wirte – gemacht.
Als die Jungs am Brauhaus vorbeikamen, in dem die Übertragung eines wichtigen Fußballspiels lief, war der Wunsch nach eigener sportlicher Betätigung rasch vergessen und sie versumpften beim Public Viewing. Auch wenn ich immer wieder Insulineinheiten nachgab – natürlich deutlich vorsichtiger, als wie ich es tagsüber gemacht hätte – reagierten sie aufgrund der hohen Werte auf das Insulin wesentlich weniger sensitiv und an ein nächtliches Schlafen auf meiner Seite war kein Denken. In regelmäßigen Abständen gab ich mal dem einen, mal dem anderen Insulin nach und überprüfte jede Stunde, wann nun endlich das verabreichte Insulin seine blutzuckersenkende Wirkung zeigte.
Als gegen 4.00 Uhr morgens endlich wieder bei beiden alle Werte im Zielbereich waren, war ich so überdreht und angespannt, dass ich in keinen erholsamen Schlaf mehr fiel. Tagsüber schaffe ich es natürlich nie, auch nur eine Minute Schlaf nachzuholen. Und an diesem Tag stand die Besichtigung eines kleinen Juwels, Ǻlesund, an, das für viele sogar die schönste Stadt des ganzen Landes darstellt.
Die meisten der Bewohner sind auf den drei Hauptinseln, welche alle durch Brücken miteinander verbunden sind, zu finden. Mir war im Vorfeld als einziges der Hausberg Aksla ein Begriff, dessen Gipfel man faszinierenderweise durch den teils recht mühsamen Aufstieg von 418 Stufen erreicht.
Nach einer durchwachten Nacht und von der großen Sorge getrieben, dass den Jungs aufgrund der hohen nächtlichen Zuckerwerte beim Frühstück schlecht werden könnte, blieb ich mit ihnen extra noch deutlich länger an Bord, obwohl ich unter normalen Umständen bereits längst auf Erkundungstour aufgebrochen wäre.
Als alle halbwegs fit waren, machten wir uns an die Besteigung des Aksla, von dessen Gipfelplateau man einen atemberaubenden Blick auf die gesamte Insel, das Schärengewirr und die Sunnmørsalpen hat.
Da wir in Ǻlesund eine erstaunlich lange Liegezeit von 8.00 -18.30 Uhr hatten, gestand ich den Kindern nicht nur einen deutlich späteren Besichtigungsbeginn zu, sondern ebenso einen mittäglichen Aufenthalt an Bord, der sich dank üppigster Speisefolgen mit köstlichen Dessertvariationen und (glutenfreien) Kuchen auf über 2,5 Stunden ausdehnte.
Am Nachmittag besichtigten wir die zahlreichen für diese Stadt so typischen Jugendstilgebäude. Aufgrund eines verheerenden Feuers, ausgelöst von einem Brand in der Margarinefabrik im Jahr 1904, hatten 80 % der Bevölkerung ihre Holzhäuser verloren und dank großzügiger Unterstützung des Norwegenliebhabers Kaiser Wilhelm II, konnte die Stadt relativ rasch wieder aufgebaut werden, und zwar im Stil der Art-nouveau-bauten.
Die reizvollsten Jugendstilbauten findet man entlang der Apoteken- und Kirkegate, wo man an den Fassaden immer wieder neue beeindruckende verspielte Ornamente sowie unzählige kleine Türmchen entdecken kann.
Die von dem deutschen Kaiser gestifteten Glasmalereien der Ǻlesundkirche konnten wir leider nicht bewundern, da die Kirche – wie so viele norwegische Kirchen der letzten Tage- bereits geschlossen war. Dafür frönte unser Schiffsliebhaber seinem Hobby der Beobachtung der unterschiedlichsten Schiffe und war dabei sehr traurig, nicht gleich selbst eine der vorbeiziehenden Yachten lenken zu dürfen.
Und wir entdeckten diesen ganz besonderen Leuchtturm, der sich als ein Ausnahmehotelzimmer herausstellte. Ist doch in diesem die sogenannte Honeymoonsuite eines großen Hotels untergebracht.
Eine kuriose Entdeckung machten wir auch beim Sail away, als wir einige Norweger beim Benützen der Außensauna und der aufgestellten Sitztröge sahen. Verwunderlicherweise war dieses Saunaangebot direkt am Hafen aufgebaut worden.
Mit leider von Tag zu Tag noch exorbitanter schmerzenden Füßen erklomm ich auf dem Weg zum Familienrestaurant Fuego das 14. Stockwerk und wunderte mich, warum ich von Deck 12 so rasch – nämlich sofort – auf dem Deck 14 angelangt war. Wenig später fiel mir der Grund ein. Aufgrund des Aberglaubens, dass die Zahl 13 eine Unglückszahl sei, hat man konsequent sowohl bei der Kabinen- als auch bei der Decknumerierung auf diese Zahl verzichtet, so dass man, wenn man vom Ausflugsdeck 3 zum Familienrestaurant auf Deck 14 steigen möchte, immerhin ein Stockwerk weniger hochschnaufen muss…
Den Titel der abendlichen AIDA-show „Let’s get loud“ nahmen einige Passagiere etwas zu wörtlich. Bis jetzt hatte ich mich immer bewusst gegen diese allabendlichen Spektakel entschieden. An diesem Abend bin ich eigentlich nur zu spät vom Sitzsack im Theatrium hochgekommen, da ich zu sehr mit dem (erfolglosen) Hochladen der dank der Fotoflatrate täglichen aufgenommenen Hafenfotos vom AIDA-bordportal beschäftigt war.
Dermaßen vertieft in mein Handydisplay bekam ich überhaupt nicht mit, wie sich alle Decks des Theatriums zunehmend gefüllt hatten und direkt neben mir zwei Frauen Platz nahmen, welche ihre besten Zeiten deutlich überschritten – oder wahrscheinlich noch nie – hatten. Sie waren mit dem obligatorischen Cocktail bewaffnet, an dem sie jedoch nicht nuckelten, sondern mit ihren verschwitzten Händen ausgiebig klatschten, schunkelten und im Wechsel mit begeistertem Kreischen in so falschen Tönen wie man es sich nur vorstellen kann, mitgrölten.
Und das alles noch direkt inmitten meines Ohres. Wer solche Spektakel mit einem Kreuzfahrtschiff verbindet, mag sich tatsächlich über meine Liebe zu solchen Schifffahrten wundern. Ich fand meine – zumindest direkt benachbarten – Zuschauergenossinnen auf alle Fälle so abschreckend und abstoßend, dass ich rasch das Weite suchte.
Glücklicherweise ist jedoch niemand gezwungen, einer solchen Show beizuwohnen. Da freue ich mich doch jetzt schon, liebe Birgit, liebe Dani, ausgesprochen auf den nächsten, gesitteten und von deutlich kultivierterem Publikum begleitetem Variététheaterbesuch…
Ich jedenfalls entfernte mich eiligst von denstickigen und lärmgeschwängerten Örtlichkeiten, frustriert, dass ich weder bei dem Fotoherunterladen reüssiert noch auch nur ansatzweise an der dargebotenen Show Gefallen gefunden hatte und eilte zu unserer Kabine.
Dort traf ich auf die mustergültig pünktlich erschienenen Zwillinge, die allerdings vom ausdauernden Fußball- und Tischtennisspielen von einem Unterzucker in den nächsten niedrigen Wert fielen, dessen Behebung mich bei unserem Älteren noch bis in die frühen Morgenstunden immer wieder an dem Schlaf hinderte.
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