Leider bin ich momentan nur sehr eingeschränkt Herrin meiner Sinne, verweile ich in Gedanken doch ständig bei meinem Vater. Hatte ich eine Woche zuvor unwiderbringlich meine einzigen Wanderschuhe, in denen meine permanenten Fußschmerzen noch am erträglichsten sind, unter einem kleinen Tisch auf der Zugrückfahrt von Salzburg nach München stehen lassen, durchlebte ich nun kurz vor Mitternacht folgende Geschichte, die mich beinahe um den gesamten Nachtschlaf brachte.
Als ich am späten Abend die überdrehten Zwillinge endlich ins Bett gebracht und mich anschließend zwei Stunden lang erfolglos und immer frustrierter um ein funktionierendes W-lan bemüht hatte, machte ich mich an das Rucksackpacken für den nächsten Tag. Nehme ich nicht nur auf jeden Ausflug eine Vielzahl an glutenfreien Brotzeitvarianten, Unterzuckergummibärchen, eine Waage und Reiseführer, sondern auch das gesamte Diabetesequipment wie Ersatzsensoren, -katheter, etc. mit.
Die Eintrittskarten für den von den Zwillingen bereits Monate lang im Voraus ersehnten Besuch im Europapark Rust hatte ich bereits im Rahmen der sehr empfehlenswerten Schwarzwalderlebniscard gezahlt. Aber da sich die beiden gewünscht hatten, nach dem Freizeitparkvergnügen das Abendessen ausnahmsweise in einem Fastfoodrestaurant in der Nähe einzunehmen, vergewisserte ich mich, ob mein Portemonnaie im Rucksack an Ort und Stelle war.
Ich griff in die Vordertasche meines blauen Rucksacks – nichts. Ich durchwühlte alle weiteren Fächer. Unzählige Kugelschreiber, Taschentücher, Prospekt und vieles mehr quollen heraus, aber kein Geldbeutel. Leichte Panik , gepaart mit völliger Übermüdung, stieg in mir auf. Mein Augenlid zuckte unkontrollierbar und bewegte sich immer schneller. Ich zupfte an meinen Lippen, bis das Blut floss. Ich leerte den kompletten Rucksackinhalt auf den Stuhl aus – nichts.
Ich zwang mich trotz der großen Erschöpfung an den Zeitpunkt und den Ort zu erinnern, an dem ich das letzte Mal meinen bordeauxfarbenen Ledergeldbeutel in den Händen hielt. Gegen 15.00 Uhr hatte ich aus diesem einen Zwanziger- und einen Zehnerschein zum Bezahlen des Eintritts in das Schokoladenmuseum in Colmar gezogen.
Wie tagtäglich war ich auch dort wie ein arbeitsamer Packesel voll beladen eingelaufen – einen Rucksack, zwei prall gefüllte Leinensackerl, die Jacken der Kinder und von mir und – nicht zu vergessen – unsere drei Regenschirme balancierte ich vor mir her. Das Schokoladenmuseum hatte schließlich keine Garderobe.
Mir wurde heiß und kalt. Ich erinnerte mich nun gut, dass ich kurz ein Leinensackerl im ersten Stock des Museums während unseres Besichtigungsrundganges unbeaufsichtigt abgestellt hatte, da ich schnell einem unserer beiden Zwillinge nachgelaufen war, um die zu verkostende Schokolade, welche sich in Hülle und Fülle vor ihm in verlockenden, großen Schokoladenspendern darbot, abzuwiegen.
In dieser kurzen Zeit muss mein Geldbeutel gestohlen worden sein. Mein Herz raste, ich schrieb – mittlerweile war es kurz vor 1.00 Uhr nachts – mit zittrigen Fingern Mails an das Schokoladenmuseum. Da das W-lan bei unserem Laptop aus unerfindlichen Gründen nicht funktionierte, tippte ich alles auf dem kleinen Handydisplay und ärgerte mich, dass ich wenige Minuten nach der mühseligen Eingabe meiner Vermisstensuche eine Failurenotice bekam. Warum war nun auch noch die Mailadresse des Schokoladenmuseums in Colmar im Internet falsch angegeben?
So schrieb ich noch an das commissariat von Colmar, wobei ich plötzlich auf der Seite des dort ansässigen Fremdenverkehrsbüros landete. Ich wurde immer hektischer und planloser. Wie sollte ich die Kinder ab morgen ernähren? Ohne Geld habe ich noch nicht einmal genügend Benzin, um die Rückfahrt mit dem Auto nach Hause in das über 400 Kilometer entfernte München anzutreten. Und den Europaparkbesuch können wir natürlich unter diesen Umständen ganz vergessen…
Ich zog mit schweißnassen Händen meinen Mantel über mein dünnes baumwollenes Nachthemd und eilte barfuß in Eiseskälte zum Hotelparkplatz, um zum wiederholten Mal mit der Taschenlampe gründlichst unseren VW-bus auf mein Portemonnaie abzusuchen – nichts. Ich stellte im Dunklen – die Jungs schliefen selig – unser ganzes Hotelzimmer auf den Kopf und fand- nichts.
Ich ließ die EC-karte sperren, anschließend die erste Visacard. Wie konnte ich nur so fahrlässig sein und dieses verfluchte Leinensackerl einfach kurz unbeaufsichtigt gedankenlos im Museum stehenlassen? Eigentlich müsste ich sofort ins commissariat nach Colmar fahren, aber ich kann ja auf gar keinen Fall die Kinder allein im Hotelzimmer lassen. Ich schelte mich, dass ich mich partout nicht an die Nummer meiner zweiten Visacard – welche ich nur mal wegen einer Werbeaktion beantragt und vergessen zu kündigen hatte – erinnern kann.
Warum bin ich überhaupt in den Schwarzwald gefahren? Warum kann ich nicht einfach zu Hause bleiben und nichts machen? Wie sehr vermaledeite ich mich von Minute zu Minute mehr. Sicher waren nun mittlerweile alle meine Konten bereits leergeräumt, lag der Diebstahl doch schon beträchtliche Stunden zurück. An Schlaf war selbstverständlich nicht zu denken…Die Geldsorgen wurden noch durch plötzlich katastrophal ansteigende Blutzuckerwerte des Jüngsten vergrößert.
Nochmals durchwühlte ich panisch das gesamte Zimmer im Dunklen. Dabei stellte ich auch alle Rucksäcke vom Sessel auf den Boden. Plötzlich nahm ich schemenhaft etwas Rotes neben meinem Tuch war … Der Geldbeutel musste unbemerkt rausgeglitten sein. Welch Glücksfall, dass ich aufgrund meiner Zerstreutheit wenigstens meine zweite Kreditarte noch nicht hatte sperren lassen können…
Nachtrag: Es ist unglaublich, aber wahr. Am nächsten Morgen, nachdem ich einige Stunden zuvor im Nachhinein gesehen vollkommen grundlos (fast) alle meine Geldquellen gesperrt hatte, berichtete mir meine Mutter von folgendem „Super-GAU“: Sie hatte just am selben Tag meines Missgeschicks ihre Aktentasche mit allen wichtigen Dokumenten beim Einkaufen stehen lassen. Als diese nirgendswo auffindbar war, ließ sie alle Bankkarten sperren, nur das Bürgerbüro bezüglich der Personalausweise war telefonisch nicht erreichbar gewesen.
Nachdem allen getätigten Sperrungen in Auftrag gegeben worden waren, läutete das Telefon. „Ich habe Ihre Aktentasche in Sicherheit gebracht.“ Die Metzgereiverkäuferin sprach die gute Nachricht laut und deutlich ins Telefon.
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