Alkoholabusus, Anerkennungskrise, Antipathieempfindungen, Adventsbäckerei

„Waaaas?“ sprach mich vor ein paar Tagen eine entferntere Nachbarin halb vorwurfsvoll, halb mitleidig an, als ich mich mit unserem Hund auf dem tollen Leihgerät namens Orthoscoot, bei dem ich mir immer dermaßen blöd vorkomme, dass ich stets hoffe, ja niemandem zu begegnen, für zehn Minuten um den Häuserblock quälte. „Kannst du immer noch nicht laufen? Und du hast ja auch noch diesen klobigen Stiefel.“ ereiferte sie sich. Wie lange dauert das denn noch?“ redete sie sich war, um mich dann noch einen ganzen weiteren Wortschwall zu überschütten. Ja, wie gerne würde ich endlich, endlich zumindest eine Teilbelastung auf den linken Fuß legen dürfen. Aber dank der Osteoporose muss nun eher gefürchtet werden, dass es den Knochen noch viel langsamer glücken wird, mit dem neu eingesetzten Titan halbwegs zufriedenstellend zusammenzuwachsen…“Wer den Schaden hat, braucht den Spott nicht zu fürchten.“ Oft wird der Spott jedoch auch durch schlichte Dummheit ersetzt. Meinte eine andere Dame mit einem dauerkläffenden Pinscher doch kurz danach, mir auch hilfreiche Ratschläge in meiner misslichen Lage geben zu müssen und schlug mir ganz ernsthaft Folgendes vor, nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ich auf dem Orthoscoot auch nur eine sehr begrenzte Zeit unterwegs sein könne, da ansonsten der Plastikschuh zu sehr auf dem Schienbein drückt, was all die Schmerzen noch einmal massiv verstärkt, und ich insgesamt in eine zu große Schieflage komme. „Ja, dann wechseln Sie doch einfach immer mal wieder das Bein ab.“ Ein äußerst praktikabler Vorschlag für jemanden, der seit Wochen den operierten Fuß noch nicht einmal mit fünf Kilo belasten darf…

Ich kann mich über vieles zur Zeit beklagen, die Langeweile wird es jedoch bestimmt nie sein. So sei nur folgende Anekdote exemplarisch zum Besten gegeben: Nach einer schlaflosen Nacht, in der ich nur ausgesprochen häppchenweise den Grund des plötzlichen völligen Aufgelöstseins der Tochter nach deren Rückkehr von einer Hausparty erfahren hatte und einmal mehr das erfolglose Eintrichtern, dass man auf Feiern nicht verschiedene Alkoholika auf einmal trinken sollte, zu beklagen hatte, hoffte ich auf einen etwas weniger turbulenten Sonntag, der mir nicht gestattet sein sollte. Kaum hatte sich die töchterliche Gesichtsfarbe von kalkweiß auf ganz zart hautfarben normalisiert, klingelte ihr lieber Freund bei uns an der Haustür. Noch während ich beim Aufräumen der Küchenschublade unbedarft vor mich hinplapperte, dass wir noch so viel Wodka im Haus hätten, den keiner trinkt, wurde er auf der Coach sitzend, immer unruhiger und fragte plötzlich: „Irgendwie ist mir so schlecht. Soll ich mal schnell in den Wald gehen?“ „Wenn du es auf die Toilette schaffst, würde das doch schon ausreichen.“ seufzte ich etwas konsterniert, was gerade noch so glückte.

Ich hatte kurz davor das Mittagessen auf den Tisch aufgetragen und hätte mir als begleitende Hintergrundmusik sehr gerne eine andere Geräuschkulisse als lautstark zu vernehmende Würgegeräusche aus der Gästetoilette kommend gewünscht… Der wirklich von uns allen sehr geschätzte Freund ließ uns an allem minutiös teilhaben und teilte uns auch mit einer nicht sehr gewählten Ausdrucksweise mit, dass nun mehr keine orale, sondern nun mehr eine anale Körperentleerung folgen würde. Zwischendurch war immer wieder das Geräusch der Betätigung der Toilettenspülung zu vernehmen und es fiel mir von Bissen zu Bissen schwerer, mich auf das Mittagessen, auf das ich mich eigentlich gefreut hatte, zu konzentrieren, geschweige denn dieses in irgendeiner Weise genussvoll zu mir zu nehmen.

Sehr lange konnte ich sowieso nicht am Platz sitzen bleiben, wurde selbstverständlich auch an diesem Tag nicht nur nicht mir geholfen, meinen Kaffee oder ähnliches unfallfrei an meinen Platz zu bringen – gestaltet es sich doch nach wie vor nicht immer ganz komplikationsfrei, mit dem kaputten Fuß in der Luft und dem linken Knie auf dem Orthoscoot kniend, diesen schwerfällig durch unsere schmale Küche und den engen Flur zum Wohnzimmer zu lenken, während ich in der anderen Hand z.B. einen kochend heißen Topf oder aber auch eben meinen geliebten Kaffee zu transportieren versuche-, keimte doch der Wunsch bei der Jugend nach einem Kamillentee nach der so ungesund verbrachten Nacht auf. Auch, wenn ich selbst sehr gerne mal nach dieser so schweren Fußoperation bemuttert werden hätte wollen, setzte ich selbstverständlich das Teewasser für die beiden Alkoholgeschädigten auf und holte die gerade verräumte Spuckschüssel zur Sicherheit wieder hervor, dieses Mal für den männlichen Part.

Als ich anschließend feststellen musste, dass in diesem Alter noch nichts von dem Verursacherprinzip bekannt zu sein schien und sich beide jungen Leute ohne eine vorherige gründliche Toilettensäuberung verabschiedeten, blieb mir nichts anderes übrig, als teils einbeinig auf die Krücken gestützt, teils auf dem Orthosccoot kniend, der aufgrund der Enge des Gästebads bei jeder kleinsten Verschiebung in der Tür stecken zu bleiben drohte, fluchend abermals die Toilette wieder in einen möglichst sauberen Zustand zu versetzen. Ich konnte es nicht verhindern, dass dabei der gesammelte Groll in mir hochstieg und ich mich immer noch sehr über die einige Tage zuvor konstatierte Diskrepanz zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung unserer Tochter ärgerte. So hatte ich doch rein zufällig von einer Freundin erfahren, dass die (vermeintliche) Mithilfe unserer Tochter sogar kurz davor ein ausgiebiges Thema in der Jugendgruppe der Tochter der Freundin war. Und so traute ich meinen Ohren nicht, als mir vermeldet wurde, dass es darum ging, wie viel unsere „arme Tochter“ täglich im Haushalt mithelfen müsse. Ich schäumte vor Wut, wenn man bedenkt, dass diese neben vielen Tagen, an denen die einzige Haushaltsleistung darin besteht, ihr jeweils benutztes Geschirr in die Küche zu tragen, sich an den „guten“ Tagen darin zeigt, über den ganzen Tag maximal zehn Minuten einer Haushaltstätigkeit nachzugehen…

Liebenswürdigerweise hatte die Tochter der Freundin diese hanebüchene Haushaltsaussage offenbar gleich wieder etwas ins rechte Licht gerückt, aber eine solch verzerrte Deutungshoheit bezüglich der häuslichen Mithilfe ließ mich tatsächlich vollkommen sprachlos zurück. Neben den konkreten Arbeiten, welche in meinem immobilen Zustand leider immer x-mal so viele Zeit benötigen wie mit gesunden Füßen, wird der so genannte mental load von Tag zu Tag noch mehr. Da war es noch eine Kleinigkeit, dass ich, nachdem ich alles für die Kinder für die sonntägliche, mittägliche Fahrt zu den Großeltern zusammengepackt hatte und mich schon einmal an das Vorkochen für das Abendessen machte, glücklicherweise mit geübtem Ohr aus der Küche Bewegungen aus dem Wohnzimmer vernahm, die eindeutig unserem Hund zuzuordnen waren, der eigentlich schon längst von der bereits abgefahrenen Familie im Auto hätte mitgenommen werden sollen, kann ich ja leider nicht mit dem Hund gehen. So konnte ich immerhin rasch an das vergessene Familienmitglied telefonisch erinnern und die Familie zum schleunigen Umkehren motivieren…

Ist mir das Delegieren schon immer schwer gefallen, wird es mir nun jeden Tag noch einmal deutlich erschwert, werden viele meiner Bitten doch auch nach mehrmaligem Wiederholen konsequent ignoriert oder wird auf Seiten der Jungs so sehr auf eine vermeintlich gerechte Arbeitsteilung geachtete, dass ich mich doch wesentlich lieber selbst zu allem hinzu quäle als ständig um Hilfe zu bitten. Auf meine Bitte an den Jüngeren, doch ihre Schlafanzüge vom ersten Stock in das Wohnzimmer zu bringen, wurde mir von diesem tatsächlich todernst geantwortet: „Aber ich bin heute schon zehn Schritte mehr als mein Bruder gegangen….“ Schwierig, schwierig…Gerade, wenn man bedenkt, dass die Kinder ja im Gegensatz zu mir mühelos und sehr viel zügiger alle Strecken bewältigen können.


Leider gibt es immer wieder Menschen unterschiedlichster Altersklassen und sozialer Herkunft, deren Äußerungen alles andere als empathisch sind. So musste ich auch bei einer meiner zeitaufwändigen postoperativen Kontrollterminen in der Schönklinik, wo ich mich auf langen Korridoren zwischen den erforderlichen Röntgenaufnahmen im Erdgeschoss, der Kontrolluntersuchung und Nachbesprechung beim Operateur in einem ganz anderen Trakt im ersten Stock sowie dem Besuch der völlig überfüllten Orthopädiewerkstatt im weitläufigen und etwas Angst einflößenden Keller für die Anpassung der von mir so verhassten Thrombosestrümpfe, die leider noch nicht einmal die allabendlichen Heparinspritzen ersetzen können, hin und her und rauf und runter bewegte, zwangsläufig das unüberlegte Geplapper eines am Tag zuvor am Sprunggelenk operierten mittelalten Mannes zu Ohren bekommen, der lang und breit völlig ungefragt einem Mitpatienten erörterte, wie erleichtert er sei, dass bei ihm nun doch kein künstliches Sprunggelenk, geschweige denn eine Versteifung (wie es bei mir als nur einem kleinen Teil der sehr aufwändigen Operationen vollzogen wurde) durchgeführt werden musste. Wie froh wäre ich dabei gewesen, wenn bei meinem völlig kaputten Fuß mein Weichteilgewebe rund um das Sprunggelenk noch in der Lage gewesen wäre, ein künstliches Sprunggelenk aufzunehmen, das die Rekonvaleszenz wesentlich beschleunigt hätte.

Auch familiär ist das Mitdenken und Mitfühlen noch ausgesprochen ausbaufähig. Neben dem nie endenden und teilweise sehr zeitintensivem und mich völlifg erschöpfendem Diabetes- und Zöliakiemanagement sowie dem Kochen, Waschen und der Hausaufgabenbetreuung sowie dem Musikinstrumenteüben ist mein Tag regelmäßig nicht nur durch viel Physiotherapie – angeleitet oder auch ganz diszipliniert allein zu Hause übend – , sondern auch durch die unvermeidlichen Arztbesuche zum Verbandswechsel, sowie zum Blutabnehmen ausgefüllt. Leider sorgen die allabendlichen Heparinspritzen nicht nur für täglich etwas brennendere Schmerzen und einen komplett blauen Bauch, sondern haben zugleich bei mir zu einem dramatischen Thrombozytenabfall geführt.

Bin ich auch zumindest bedingt multitaskingfähig, überstiegen die Anforderungen an mich an einem anderen Samstag dann doch definitiv meine Kapazitäten. Ich hatte gerade schon längere Zeit mich bemüht, für die siebte Klasse in Latein einen ansprechenden, gleichzeitig nicht zu schweren, aber dennoch vieles der neu gelernten Grammatik und Vokabeln enthaltenen lateinischen Text rund um Hannibal zu entwerfen, als ich mich an das Kochen für die gesamte Familie machte. Da das Zubereiten einer Käsesoße sowie das Kochen zweier großer Töpfe mit Nudeln in der Gluten- und der glutenfreien Variante, keine großen intellektuellen Kapazitäten (wohl aber Balancefähigkeiten und Leidensfähigkeit in meinem jetzigen Zustand) bindet, ging ich währenddessen auf dem Orthoscoot kniend und balancierend, damit ich ja nicht hinstürzte, noch mal meinen gesamten Schulaufgabenentwurf auf eine möglichst gute Machbarkeit und Stringenz hin durch. Als ich gerade überlegte, an welcher Stelle ich im lateinischen Text noch eine Passivform einbauen und wo ich die Hannibalgeschichte noch etwas straffen könnte, klingelte es und ich war sehr überrascht, dass die Tochter mitsamt ihrem Freund sogar zehn Minuten vor der verabredeten Zeit im Türrahmen standen und zudem noch überaus freundlich grüßte. Ohne nun ins Detail zu gehen, sei nur verraten, dass ich zwischen dem konzentrierten Umrühren in dem jeweiligen Nudelwasser mit bzw. ohne Gluten, um ja jegliche Kontamination zu vermeiden, mich mit der genauen Wirkweise der Pille danach ausgiebig beschäftigen musste, und das nicht, weil ich diesbezüglich ein Problem gehabt hätte…

Als ich gerade abends physisch und psychisch erschöpft von dem Tagesgeschäft zum x-ten Mal für die Erledigung der Wäsche die Treppe vom ersten Stock zum Erdgeschoß auf dem Po, der mich deshalb auch schon aufgrund der Überbelastung stark schmerzte, runtergerutscht war, musste ich bei folgender männlichen Aussage, die wahrscheinlich auch gar nicht bös, sondern nur ziemlich unüberlegt geäußert wurde, doch ziemlich schlucken. „Aber man kann ja auch nicht den ganzen Tag herumliegen…“, bekam ich zu hören, ich, welche es an diesem Tag nur wirklich viel zu selten geschafft hatte, mich länger am Stück hinzusetzen und/oder den Fuß, wie dringend wegen der noch starken Schwellung, benötigt, hochzulagern…Kurze Zeit später bekam ich plötzlich so starke, lang anhaltende Muskelkrämpfe und ein äußerst schmerzhaftes, penetrantes Stechen und Ziehen im rechten Oberschenkel, dass mir bei jedem Aufstehversuch fast schwarz vor Augen wurde und ich erzwungenermaßen auf der Coach abwarten musste, bis ich mich wieder halbwegs bewegen konnte, um spätabends den Frühstückstisch für den nächsten Tag zu decken und dabei einmal mehr ganz genau zu fühlen, was die Psychologie unter der sogenannten Gratifikationskrise versteht, nämlich dem Gefühl, sehr viel zu leisten, ohne dafür irgendwie anerkannt zu werden.

Aber vielleicht ist es ja auch eine gewisse Form der Anerkennung, wenn die Kinder stets auf die Frage von wohlmeinenden Freundinnen, Freunden oder auch Kolleginnen und Kollegen nach meinem gesundheitlichen Befinden, ohne eine Sekunde zu zögern, mit „Gut“ antworten, hat sich ja für diese auch nach meiner extrem komplizierten und langwierigen OP nichts geändert. Dass ich viermal so lange allein zum Tischdecken, Kochen oder Wäscheaufhängen brauche, tangiert sie ja nicht, wenn doch das Endergebis so wie immer ist…

Wie liebe ich doch im Allgemeinen an der Adventszeit ausgesprochen den gesamten Lichterzauber, den Duft nach Plätzchen und Glühwein sowie den Besuch einiger besonderer Christkindlmärkte, muss ich in diesem Jahr ja fußbedingt aufgrund meiner so eingeschränkten Mobiltät auf jeglichen Ausflug komplett verzichten. Das einzige, was auch eher schlecht als recht geht, ist das adventliche Backen, was bei uns ja allein schon wegen des permanenen Beachtens der Kontaminationsfreiheit aufgrund der Zöliakie unseres Jüngsten nie ganz unbeschwert ist. Und dieses Jahr wurde es noch getoppt, in dem ich mit Blechen, Rührschüsseln und den gesamten Backzutaten auf dem Orthoscoot so lange von der Küche bis zum Wohnzimmer rollerte, bis mein linkes Schienbein komplett blau war. „Das sieht aber wirklich alles sehr abenteuerlich aus, was du da machst.“, bekam ich zweifelnd zu hören, aber ich freute mich, dass das Ergebnis der Adventsbäckerei doch dann allen sehr mundete und gerade auch für den töchterlichen Freund der Tochter eine große Auswahl an glutenfreiem Gebäck zur Verfügung stand. So ist die Adventsbäckerei zwar deutlichst reduziert, dafür aber um sehr viel Glutenfreies mehr reicher geworden…

Beitrag veröffentlicht

von

Schlagwörter:

Weitere Beiträge

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert