
Den letzten Tag mit unseren Leihfahrrädern mussten wir möglichst gut ausnutzen und so fuhren wir von unserm Hotel Meininger im Osten von Paris quer durch die ganze Stadt, wollte die Tochter doch auf alle Fälle noch zu den Champs-Elysées, bei denen ich bereits in der Vorstellung, dies alles mit extremen Fußschmerzen ablaufen zu müssen, Panikattacken bekam. Und der Weg dorthin gestaltete sich anders als zum Parc de la Villette ausgesprochen reizvoll, da wir bei der Coulée Verte begannen, das Viaduc des Arts bewundern konnten und schließlich relativ unverhofft auf die Place de la Bastille stießen.

Allerdings war dies nun im Zeitraffer erzählt, die Realität bestand zunächst einmal begleitet von einem ständigem bangen Blick auf den schwarzgrauen mit dichten Regenwolken verhangenen Himmel darin, dass wir nur wenige Minuten geradelt sind, bis der Jüngere von vorne gekräht hat: „Mama, haben wir Katheter dabei? Ich glaube, mein Katheter ist abgeknickt.“ Selbstverständlich habe ich stets das medizinische Equipment für eine ganze Woche dabei, aber als ich die Jungs extra noch einmal kurz vor der Abfahrt nach benötigten Sachen gefragt hatte, standen sie mir natürlich in keiner Weise hilfreich zur Seite…

„Mama, ich bin im Unterzucker.“ Und so machten wir die gesamte Radstrecke immer wieder viele Pausen, in denen ich Gummibärchen verteilte, nach Blutzuckerwerten oder auch besorgt nach dem Funktionieren der einzigen noch halbwegs intakten Bremse beim Jüngeren fragte. Als mir gerade mal wieder der Atem stockte, als unserer Älterer in viel zu flottem Tempo in Richtung der Coulée Verte fuhr, zweifelte ich zudem auch noch an meinen pädagogischen Fähigkeiten. So fragte unsere Tochter doch tatsächlich, obwohl ich zwei Tage zuvor lang und breit erklärt hatte, was es mit der so berühmten Coulée Verte auf sich hätte, völlig unbedarft: „Mama, was ist das denn, die Coulée Verte?“

Und egal, wie erschöpft dir Zwillinge beim Radeln waren, erwachten die Geister zuverlässig bei der ersten Sekunde einer jeden eingelegten Pause. Als wir Damen an der Place de la Bastille gerade die dortige Julisäule bewunderten und uns ins Gedächtnis riefen, dass die zweite Revolution unglaublicher Weise nur eine Länge von drei Tagen im Juli 1830 aufwies, hatten die Söhne in der Richtung des Canal St. Martin bereits eine Skulptur mit den olympischen Ringen entdeckt und konnten von dem dortigen Herumklettern – und dem Bewundertwerden der anderen Kinder, dass sie bis nach ganz oben gekommen sind – gar nicht genug bekommen.

Und das, obwohl bereits kurz nach dem Ende des Frühstücks während des Radelns Wehklagen à la „mir tun die Füße so weh.“ von dem einen und von dem anderen – der eine beachtliche Anzahl von pains au chocolat und croissants verdrückt hatte – lautstark zu vernehmen war: „Und ich hab schon wieder soooo Hunger.“

Wenn die Jungs nicht gerade unbeabsichtigt Fotos crashten – wie oft mussten wir sie die letzten Tage von Monumenten wegziehen, bei denen sie seelenruhig verweilten, während die anderen Touristen geduldig minutenlang auf ein personenfreies Motiv warteten – konnten sie zudem in dieser sehr angesagten Gegend von Paris auch sportliche Skateboardfahrer beobachten.

So waren die Tochter und ich die einzigen, welche die Pause im Sitzen verbrachten, in beeindruckender Atmosphäre, unsere Räder direkt vor der Julisäule geparkt und die neue Oper im Blick. Auf alle Fälle wurde mein guter Wille, der Tochter auch den Champs-Elysées-Wunsch zu erfüllen mit der wahrscheinlich reizvollsten – aber zugleich auch deutlich längsten – Radstrecke der vergangenen Tage belohnt. So war ich in der Nacht davor immer wieder schweißgebadet aufgewacht, da wir die Fahrräder eigentlich bereits am Mittag des Tages zurückgeben hätten sollen und ich fürchtete, dass die beiden einzigen Kinderfahrräder des Verleihs vielleicht bereits wieder an andere versprochen waren…

Der supersympathsiche Fahrradverleiher hatte mir jedoch gleich sehr lieb am Morgen bestätigt: „Oui, pas de soucis, profitez!“und so konnten wir auch noch den gesamten letzten gebuchten Tag radelnd in Paris erkunden. Da war es zu verschmerzen, dass unser Jüngster, gerade als er auf einem relativ steilen Weg zum Seineufer runtergeradelt ist, zwei Hiobsbotschaften überbrachte: „Mama, jetzt geht auch die andere Bremse fast nicht mehr. Und schau Mal, so ist der Katheter auch noch nie rausgegangen.“ Mit Blick auf Notre-Dame und die gesamte Ile St. Louis desinfizierte ich rasch die neue Hautstelle und setzte den Katheter an einer wesentlich idyllischeren Stele als dies zwei Tage vorher bei einem „Notfallstechen“ direkt in dem völlig überfüllten Wagen der Metro-Linie 6 stattgefunden hatte.

Als wir endlich, endlich nach endlosen Radkilometer am Beginn der Champs-Elysées angekommen waren, gebot ein dermaßen dringendes Toilettenbedürfnis, dass wir Damen jeweils 2 Euro für eine „Luxus“-Toilette berappen mussten, bei der zwar die Toilettenbrille und das Wachbecken nach jeder Benutzung mit einem vor Dreck starrenden Lappen gewischt wurden, der Boden jedoch extrem schmierig und nass blieb. Und jahreszeitlich hinkte die Klomusik um vier Monate hinterher, verrichteten wir doch unsere Notdurft zu der sehr eingängigen Melodie der französischen Version von „Last Christmas“.

„Was ist das denn?“ entfuhr es mir bei unserer Rückkehr zu unseren Rädern und meinem Rucksack. „Ich dachte, dass das dein Hummus wäre, Mama.“ Ich esse ja Humus fast täglich und liebe ihn über alles, aber dies war eindeutig kein Humus von mir, sondern Unmengen von Vogelscheiße, die sich zu meinem Entsetzen nicht nur auf meinem Rucksack, sondern ebenso auf meinem Anorak, einer Brotzeitdose sowie der gesamten Hose und der Jacke unseres Jüngeren verteilt hatte.

Es hatte kaum einen größeren Gegensatz geben können, als wir nur notdürftig mit Feuchttüchern gesäubert, unsere Räder in einer Seitenstraße der Champs-Elysées parkten und das luxuriöse Geschäft von Ladurée betraten. Ich hatte dort noch nie ein Macaron probiert. Meine Freude darüber, dass tatsächlich alle erdenklichen Sorten der dort angebotenen Macarons glutenfrei sind, ließ mich zur Freude der Kinder in eine Art Kaufrausch verfallen und wir erstanden Macarons zu einer Summe, die wir auch für eine Hotelübernachtung aufgewendet hatten.

Dabei schmeckte ein Macaron köstlicher als das andere in dem Geschäft, das bereits im Jahr 1862 gegründet worden ist. Könnte man meinen, dass alle Kinder nach dieser Macaronorgie im Glück schwelgen müssten, hatte man die Rechnung ohne unseren Älteren gemacht, welcher sich nicht nur „heimlich“ ein Macaron mehr als ihm zugeteilt – ich hatte extra immer eine durch vier teilbare Menge gekauft – geschnappt hatte, sondern zudem plötzlich jammerte: „Mama, aber du hast mir doch seit zwei Tagen ein Eis versprochen. Warum bekomme ich jetzt keins?“ Die Stimmung verschlechterte sich bei mir noch ein wenig, als mir sogar die Toilettenbenutzung verweigert wurde, da diese nur den Cafébesuchern gestattet sei. Und das, nachdem wir ein kleines Vermögen in die Macarons von Ladurée investiert hatten.

Aber insgesamt war es für alle ein großes Erlebnis, bei Ladurée auf den Champs-Elysées eine beachtliche Menge an Macarons zu verspeisen, bei denen wir alle Sorten empfehlen können, bis auf die Orangenblütenvariante, welche den Mund wie eine Überdosis an Kölnisch Wasser erfüllt. Nach einem relativ schnell beigelegtem Streit hinsichtlich der Laduréepapiertüten traten wir langsam den Weg zurück zu dem Fahrradverleih an. Dabei war ich stets vom Zeitstress getrieben, wollte ich doch – typisch deutsch -die Räder exakt zu der vereinbarten Zeit zurückgeben, was der Radlverleiher glücklicherweise überhaupt nicht so eng sah.

Nach einem kurzen Abstecher beim Louvre begaben wir uns auf den Wunsch der Tochter noch in das Montmartreviertel. Ohne chronische Schmerzen ist dabei nicht vorstellbar, wie dankbar ich unserer Tochter war, als diese entdeckte, nachdem plötzlich um 20.30 Uhr der Parc vor Sacré-Coeur geschlossen hatte, dass man keinen langen umständlichen Weg nach unten laufen muss, sondern einfach die Standseilbahn nehmen kann, welche in dem normalen Navigo-Tagesticket bereits inkludiert ist.

Wie oft war ich schon im Montmartreviertel gewesen, aber da musste erst unser liebe Tochter mir anlässlich meiner Laufqualen zeigen, dass wir einfach ganz bequem eine Standseilbahn benützen können. So hatte sie sich die nächtlichen Impressionen von Moulin Rouge natürlich mehr als verdient.

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