
Ich war nach der dritten Stunde von so vielen Schülerinnen und Schülern meiner quirligen sechsten Klasse umringt, welche teilweise noch Fragen zum neu erlernten Relativpronomen im Lateinischen hatten, teilweise mir aber auch einfach noch möglichst viel erzählen wollte, was sie gerade persönlich bewegt. Deshalb bemerkte ich erst etwas verzögert das Eintreten einer unserer Schulsekretärinnen in unserem Klassenzimmer. Ähnlich wie bei einem pawlowschen Hund bin ich leider mittlerweile schon beim bloßen Anblick der Sekretärinnen auf ein beträchtliches Herzrasen konditioniert, kann ich doch unterdessen den Grund ihres Unterrichtbesuchs bestens voraussagen…

Und so war es auch dieses Mal – immerhin erst pünktlich zum Ende der Lateindoppelstunde. „Bitte rufen Sie gleich die Schule Ihrer Söhne zurück.“ Ich eilte (in dem Rahmen, in dem es mein vor heftigen stechenden Schmerzen pulsierendes linkes Sprunggelenk zuließ) aus dem Klassenzimmer, bepackt mit meiner üblich brechend vollen Schultasche und tippte bereits beim Rausrennen aus dem Schulhaus mit zittrigen Händen die Nummer des Sekretariats unserer Grundschule.

Meine Fantasie, was wohl nun dieses Mal und bei welchem der Zwillinge passiert sei, ließ mich unverzüglich in einen immer stärker werdenden Abwärtsstrudel eingesogen werden, aus dem es kein Entrinnen gab. Ich vermutete, dass bei unserem Jüngsten ein Problem aufgetreten war. Ob sich wohl gerade wieder der Rettungswagen mit einem Notarzt und der gesamten Entourage um unseren Sohn kümmerte oder handelte es sich vielleicht “nur” um exorbitant hohe Blutzuckerwerte, einen ausgefallenen Blutzuckersensor oder einen abgeknickten Katheter des Insulininfusionssets?

Die Sekretärin konnte diesbezüglich schnell Licht ins Dunkle bringen. „Danke, dass Sie so schnell zurückgerufen haben! Ihr Sohn hat aus Versehen den Schulranzen eines Klassenkameraden in das Gesicht geschlagen bekommen. Es hat geblutet und nun ist die Hälfte des Zahnes rausgeschlagen.” „Ich komme sofort“, rief ich und absolvierte unfreiwillig das von der mir kürzlich erst von der Kardiologin empfohlene High-intensity-Training, zu dem ich mich bisher trotz aller guten Vorsätze und von permanentem Zeitmangel geplagt, nie aufraffen konnte.

So schaffte ich die zurückzulegende Radstrecke von meinem Gymnasium bis zur Grundschule in neuer Rekordzeit, von der großen Angst und dem Wissen getrieben, dass nicht nur z.B. bei einem Schlaganfall, sondern ebenso bei einem ausgeschlagene Zahnt jede Minute zählt. Wir lernten anlässlich dieser Episode übrigens, dass in jedem Sekretariat eine sogenannte Zahnbox liegen müsste, in die man einen ausgeschlagenen Zahn – allerdings nur, wenn er komplett ausgeschlagen ist-, in die dort vorhandene Flüssigkeit legen sollte, um anschließend 60 Minuten Zeit zu haben, um den Zahn erfolgreich wieder einsetzen zu können, indem die Zellen durch die Flüssigkeit – zur Not scheint auch H-Milch diese Funktion zu erfüllen – am Leben erhalten werden.

Unser Jüngster kam mir bereits mit einem zahnlückenbedingtem, ganz speziellem Sprachduktus entgegen: „Hallo, Mama, da ischt der Zahn. Isch hab ihn eschtra aufgehoben.“ „Um wieviel Uhr ist das denn genau passiert?“, forschte ich nach. „Schon so gegen kurz nach 8.00 Uhr.“ Nach dem verzweifelten Blick auf meine Armbanduhr, welche mir eine Uhrzeit von kurz nach 11.00 Uhr anzeigte, gelang es mir bedauerlicherweise nicht mehr, die Fassung zu bewahren. All der bisherige Stress und die Ängste ließen mich die Contenance verlieren und entluden sich zu meiner Schande in wüste Beschimpfungen. „Ja, um Gottes Willen, wenn das schon vor über zwei Stunden passiert ist, warum hast du dann erst jetzt Bescheid gegeben?“, wütete ich.

Zu meiner Erleichterung erfuhr ich von unserem Sohn, dass die Klassenlehrerin genauso verärgert und leicht panisch reagiert zu haben schien, als sie mit der großen Zeitverzögerung zwischen dem Zahnverlust und der Verlustmeldung desselbigen erfahren hatte. Meine Wut konnte unser Jüngster nicht so recht nachvollziehen. „Eigentlich hätte isch esch nosch schpäter geschagt, aber isch hatte keine Luscht auf das Radtrainig mit der Polizei.“ Dieses Radtraining hatte bereits im Vorfeld für häuslichen Ärger gesorgt, hatte ich doch offenbar die Fahrradhelme an der jeweils falschen Stelle mit den Namen der Zwillinge beschriftet, was mir diese jedoch erst mitgeteilt hatten, als wir bereits fix und fertig an der Türschwelle zum Verlassen des Hauses standen…

„Aber Mama, jetscht ischt mein Ranzen noch in der Aula“, stammelte unser Jüngster. „Den holen wir nachher“, rief ich und zog ihn schnellstmöglich zum Auto. „Jetzt müssen wir sofort zur Zahnärztin!“ Ich bin unglaublich dankbar, mit zwei Frauen befreundet zu sein, mit denen man nicht nur wundervolle Gespräche tage- und nächtelang führen kann, sondern welche sich zudem noch in Form des Studiums der Zahnmedizin für eine überaus hilfreiche Profession entschieden haben. Und die eine davon praktiziert sogar noch zum Glück in unserem Wohnort. Sie war so lieb und behandelte den Versehrten sofort nach unserem Betreten in die Praxis. Wiewohl er auf der einen Seite den Zahnverlust viel zu spät vermeldet hatte, war er auf der anderen Seite so umsichtig gewesen, alle Mitschüler, welche zu dem Zeitpunkt in der Schulgarderobe standen, nachdem einer seiner Freunde ihm aus Versehen den Schulranzen mitsamt dem daran fixierten Radhelm in das Gesicht geschleudert und dabei den oberen Schneidezahn getroffen hatte, anzuweisen, sich ja nicht zu bewegen, bis er seine zweite Zahnhälfte auf dem Teppichboden wieder gefunden hätte. Genau dieses rausgeschlagene Stück des linken oberen Schneidezahns wurde nun unverzüglich mit einem speziellen Zahnklebstoff wieder mit dem noch im Kiefer verbliebendem Zahnteil vereint.

Zudem wurde unser Sohn dazu angehalten, die kommenden drei Wochen eine Art von Schonkost einzuhalten, also z.B. nicht kraftvoll in einen ganzen Apfel oder eine Karotte mit den Schneidezähnen zu beißen. Die glückliche Fügung wollte es, dass ich just an diesem Tag als Mittagessen bereits im Vorfeld ein überaus zahnfreundliches Gericht in Form von Maisrisotto anvisiert hatte.

Gut gestärkt und bester Dinge fuhr unser Sohn nach dem Mittagessen sogar mit einem sehr guten Freund zum Bouldertraining, von dem ich ihn 90 Minuten später gerade wieder abgeholt hatte und den Heimweg antreten wollte, als er mir urplötzlich, ohne etwas getrunken, gegessen oder sonst wie mit dem Mund getan zu haben, das mir mittlerweile wohl bekannte Zahnstück erneut in die Hand legte. Während bei uns im Ort am Mittwochnachmittag fast ausnahmslos alle hausärztlichen Praxen geschlossen haben, stellte ich höchst erfreut fest, dass die Zahnarztpraxis ganz regulär geöffnet war und ergatterte ausgesprochen dankbar noch für denselben Abend einen Termin, an dem nun der verlorene Teil des oberen Schneidezahns kunstvoll durch eine spezielle Kunststofffüllung ersetzt wurde.

Glücklicherweise hält diese nun superfest und wir können nur hoffen und beten, dass aufgrund des erlittenen Zahntraumas der Nerv an dieser Stelle nicht abstirbt. Viel Zeit für Gebete und Befürchtungen blieb mir allerdings nicht, bemerkte ich doch mit Schrecken bei meiner mittäglichen Rückkehr mit unserem Pechvogel bei dessen Zwillingsbruder besorgniserregende glasige Augen. Schon zwei Tage zuvor hatte ich mir Sorgen um diesen gemacht, da er immer wieder über Kopfschmerzen geklagt hatte.

Nun zeigte das Fieberthermometer mit knapp 39 ° Grad ein eindeutiges Ergebnis an. „Ein Unglück kommt selten allein.“, schoss es mir durch den Kopf. Als ich gerade für den Grippeerkrankten eine weitere Tasse an heißer Zitrone zubereitete, vernahm ich aus dem Flur ein lautes, kräftiges und längeres Würgen unseres Hundes. Als ob nicht ein ausgeschlagener Zahn bei dem einen Zwillingssohn und ein grippaler Infekt bei dem anderen als Zusatzherausforderungen neben all den ganz alltäglich zu bewältigenden Aufgaben für einen Tag ausreichend gewesen wären, hatte nun auch noch unsere Nora mit einem verdorbenen Magen zu kämpfen, dessen Inhalt sie gleichmäßig im Flur auf dem großen Teppich und den Fliesen verteilte…

Und zu allem Überfluss ließ bei mir nach all dem nicht enden wollendem Dauerstress ein ausgesprochen schmerzhafter und großflächiger Herpes auf der gesamten unteren Lippe nicht lange auf sich warten. Um jedoch mit etwas Positivem zu schließen und auch die kräftezehrende Geschichte aufbauend zu bebildern, hoffe ich, dass sich alle über die ausgewählten Aufnahmen freuen, die mit verschiedenen Morgen- und Abendstimmungen an unterschiedlichen Orten zeigen sollen, dass jedem Sonnenuntergang auch wieder ein Sonnenaufgang folgt. Möge sich dies auch metaphorisch bei uns so ereignen…

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