„Mama, sind Turin und Santorin dasselbe?“ fragte mich unser Jüngerer heute beim eilig eingenommenen Frühstück. Ich verneinte, worauf er meinte: „Schade, ich meinte wegen des Fußballs.“ An diesem Tag hatte ich nicht nur wegen der nächtlichen Pumpenalarme schlecht geschlafen, sondern auch wegen unserer ersten vorgesehenen Tenderns. In Santorin lag unser Schiff den gesamten Tag auf Reede und wir mussten die letzten Meter an Land tendern.
Als ich gegen 7.45 Uhr ins Treppenhaus kam, erblickte ich lange Warteschlangen und ich sorgte mich bereits, dass wir sehr lange anstehen müssten. Als alle, die einen Ausflug über Aida gebucht hatten, mit Tenderbooten versorgt waren, durften alle individuellen Ausflügler von Bord und ich war sehr positiv überrascht, wie schnell wir dabei an Land kamen.
In diesem Tempo sollte es allerdings am restlichen Tag nicht immer so weitergehen…Die Jungs hatten seit Wochen auf mein Geheiß das erste Mal wieder Halbschuhe an und prompt klagte unser Jüngerer: „Oh, meine Füße sind ja schnon wieder größer geworden. Da pass ich fast gar nicht mehr rein.“ Und sein Bruder vermeldete ähnliches: „Oh Gott, sind die Schuhe eng.“ Das feste Schuhwerk war jedoch zwingend nötig, wollten wir vom alten Hafen in Thira doch nicht die Seilbahn hochnehmen, sondern den ziemlich strapaziösen Serpentinenweg.
Dieser führt mit über 500 Stufen hoch in den Ort Thira und ist nicht nur ausgesprochen rutschig, sondern man ist die gesamte Zeit auch einem erbärmlichen Gestank ausgesetzt, da die zahlreichen Esel ihre Notdurft mitten auf den Stufen verrichten. Es ist mir unverständlich, warum es nicht längst gelungen ist, diese Tierschinderei zu verbieten. Mit Sicherheit haben die Esel auf der Insel und in ganz Griechenland eine lange Tradition als Lastentiere, aber ich konnte gar nicht hinsehen, wie schwer sich die Esel gerade beim Hinabstieg auf den glitschigen Steinstufen taten und welch schwere Personen sie teils in allergrößter Hitze hochwuchten mussten.
Wir erklommen die direkt am Vulkan gelegene Stadt Thira selbstverständlich nicht auf dem Rücken eines Maultiers, sondern zu Fuß, allerdings nicht ohne einen Zwischenfall. Waren wir schon wesentlich später als geplant am alten Hafen angekommen, da mitten, als wir bereits im Tenderboot saßen, plötzlich der Blutzuckersensor des Älteren 36 Stunden zu früh ausgefallen war. In weiser Voraussicht schleppe ich immer einen Sensor als Ersatz mit.
Leider hat dieser jedoch, als ich ihn im größten Stress gestochen habe, nachdem ich wie immer gründlich die Hautstelle desinfiziert hatte, wahrscheinlich aufgrund des strömenden Schweißes nicht am Oberarm gehalten, so dass wir augenblicklich wieder zurücktendern mussten, um einen zweiten Sensor aus unserer Kabine zu holen.
Das zweite Mal am alten Hafen angekommen, hatten wir gerade die ersten 50 Stufen erklommen, als die Insulinpume des Jüngeren viel zu hohe Werte vermeldete und wir mit Schrecken feststellten, dass der nur 12 Stunden alte Katheter bereits aufgrund einer abgeknickten Teflonnadel kein Insulin mehr in den Körper ließ, so dass ich in praller Sonne unter den neugierigen Blicken von mindestens 20 Touristen einen neuen Katheter stechen musste.
Ich war mit meiner lieben Mutter im Rahmen einer Wanderstudienreise auf den Kykladen bereits vor etwa 30 Jahren auf Santorin, kann mich aber leider nicht erinnern, ob wir nach Thira auch diesen Eselweg genommen haben.
Nun war dieser Weg auf alle Fälle nicht nur in der glühend heißen Sonne gelegen, sondern es kam immer wieder eine Horde an Eseln von oben und von unten so dicht an uns vorbei, dass wir mehrmals ganz nah an den Felsen gedrückt wurden und wirklich Angst hatten. Ich wies die Jungs an, enorm aufzupassen, den Blick im Wechsel nach oben und nach unten zu richten und immer den Eseln früh genug auszuweichen.
Insgesamt herrschte eine aufgeregte Stimmung, weil man sich doch alle paar Minuten vor den Eseln in Sicherheit bringen musste, da diese ohne Rücksicht auf Verluste stur ihren jeweiligen Weg fortsetzten. Zudem schrien immer wieder Touristen auch auf den Eseln, da diese nicht immer ausführten , was sie sollten. Auf etwa der Mitte des Weges erreichten wir eine kleine schattige Stelle und die Jungs baten mich, dort ein wenig Rast zu machen. Ich traute meinen Augen nicht, als unser Älterer dabei mehr oder weniger in einem Zug die komplette Einliterflasche mit Sprudelwasser auf einmal in sich kippte.
Hatte ich schon seit dem frühen Morgen Angst, dass die Jungs diesen Tag nicht gut bewältigen, da sie viel, viel zu spät ins Bett gegangen waren und dann wagen der ganzen Kapitänsdurchsagen bezüglich des Tenderns noch wesentlich früher als üblich geweckt worden waren. Und nach dieser verrückten Trinkaktion wunderte es mich kein bisschen, als unser armer Größerer plötzlich kreidebleich wurde, und nur noch stöhnte: „Mama, mir ist so schlecht …“und ich ihn gerade noch kurz vor dem Umkippen auf einen kühlen Stein lagern konnte.
Da wir genau um diese Zeit noch keine Blutzuckerwerte von dem neu gestochenen Sensor angezeigt bekamen, war meine Sorge vor einem Unterzucker groß, so dass ich schnell das Blutigmesszeug aus dem Rucksack kramte. Er hatte traumhafte Werte von sehr stabilen 112, so dass ich die Schuld an dem Schwächenanfall eher der Kombination von der totalen Übermüdung und des viel zu schnellen Trinkens einer zu großen Sprudelwassermenge anlasten würde.
So hätte ich mir all den morgendlichen Stress, um ja vor dem großen Ansturm der Touristen in Thira zu sein, deutlich sparen können. Verbrachten wir doch ziemlich lange – immerhin im Schatten-, bis es dem armen, völlig übernächtigten Kerl wieder halbwegs gut ging.
Beeindruckenderweise schlief er inmitten aller Touristen und der zahlreichen Schreie der Touristen, die immer wieder von den Eseln an die Wände gedrückt worden waren, sofort ein und ich wachte über seinen schlaf. Als die ersten Touristen mich um Aufnahmen von ihnen direkt vor der Caldera baten, schien ich meinen „Job“ so gut zu machen, dass ich unzählige weitere Fotos von diversen Pärchen und Familien aller Herren Länder schießen sollte.
Dabei konnte ich nicht verhindern, dass unser Jüngerer vor lauter Langeweile so lange seinen Bruder zwickte und an den Haaren zog, bis dieser viel zu früh wieder aufwachte. Er war natürlich immer noch total übermüdet, aber immerhin war ihm nicht mehr übel, so dass wir unseren beschwerlichen Weg fortsetzten konnten. Wurden wir während des gesamten Aufstiegs immer wieder von Eseln an die Mauern mit voller Wucht gedrängt, gerieten in Thira, das direkt an der Abbbruchkante des Vulkankraters gelegen ist, die enorm vielen Touristen zur ständigen potentiellen Bedrohung.
Mit unserem Schiff zusammen hatten an diesem Tag noch fünf weitere Schiffe in Santorin Station gemacht, so dass allein von den Kreuzfahrtschiffen an die 12.000 Gäste an Land strömten. So wollte ich schnellstmöglich aus Thira mit dem öffentlichen Bus nach Oia fahren, der in dem Menschengewirr gar nicht so leicht zu finden war. Die völlige Übermüdung machte sich nun auch bei unserem Jüngeren bemerkbar, dem ich extra zu Beginn der 40-minütigen Busfahrt zum Schlafen geraten hatte. Er, der sonst wirklich nie unterwegs schläft, hatte dann sogar nur ein wenig später kurz die Augen geschlossen. Als ich fünf Minuten später wieder zu ihm sah, schlug er gerade seine Augen auf und konstatierte: „Gell, ich hatte die Augen nie zu. Denk nicht, dass ich müde bin.“
Die getrunkenen Wassermassen des Älteren mussten die folgenden Stunden wieder ausgeschieden werden, so dass wir insgesamt fast mehr Gebühren für die häufige Toilettenbenutzung zahlen mussten als für den restlichen Ausflug. Wir bestreiten alle unsere Ausflüge immer höchst kostengünstig. Zum Essen gibt es ausschließlich die mitgebrachte Brotzeit und die Fahrt mit dem öffentlichen Bus nach Oia und wieder zurück ist mit 4 Euro pro Person wirklich nicht kostspielig.
Auch bei dieser öffentlichen Busfahrt, während der es wesentlich mehr als die im Fahrplan angegebenen Halte gab, war ich mir stets unsicher, wo wir genau aussteigen müssen. Schließlich erreichten wir die richtige Ausstiegsstation und drückten uns durch die engen Gassen von Oia, dem Ort mit den malerischen Windmühlen und den weiß getünchten Häusern mit den blauen Kuppeln, welche fast alle Postkartenmotive aus Santorin schmücken. Da ich stets alle Ausflüge allein plane, stellen diese oft eine Herausforderung und ein Abenteuer dar, stehe ich doch stets vor der Challenge, möglichst beim ersten Versuch in mir völlig fremden Gegenden, die Zwillinge auf dem richtigen Weg zum gewünschten Besichtigungsziel zu lotsen.
Dies glückte mir in Thira trotz der überquellenden Menschenmassen und den unübersichtlichen Gassen recht gut, in Oia leider weniger. Wir fanden weder das berühmteste Anschichtskartenmotiv noch den so pittoresken Hafen Ammoúdi. Da ich unter so extremen Fußschmerzen leide, hatte ich eigentlich geplant von diesem Hafen aus, mit einem Boot zurück zu unserer Anlegestelle zu fahren, hatte jedoch die richtige Abzweigung verpasst.
So quälten wir uns auf einer absolut schattenlosen Asphaltstraße in gleißender Mittagssonne, immer wieder überholt von stinkenden Quads und Mopeds Serpentine für Serpentine in Richtung Meer, bis die Jungs so überhaupt nicht mehr zum weiteren Gehen gewillt waren. Später erfuhr ich, dass wir nur noch etwa eine Viertelstunde bis zum Hafen hätten gehen müssen, aber dies war von unserem Punkt überhaupt nicht zu eruieren, so dass uns nichts anderes übrigblieb, als den gesamten Weg wieder nach oben zu steigen und auf den nächsten Bus zu warten.
Dieser war völlig überfüllt und es standen verbotenerweise mindestens noch 25 weitere Fahrgäste inmitten des Mittelgangs in Ermangelung eines Sitzplatzes. Hatte ich bereits auf der Hinfahrt halbe Panikattacken, wann immer wir so nah am Kraterrand mit dem Bus entlangfuhren, konnte ich nun meine Phantasie gar nicht mehr bändigen und ich stellte mir bildhaft vor, wie der völlig überladene Bus nach links umkippte und Hunderte von Metern direkt über den Kraterrand in das etwa 400 Meter tiefe Meer fiel.
Diese Horrorfantasien erfüllten sich nicht. Doch in Thira angekommen, zeigte sich einmal mehr, dass das gemeinsame Reisen ein ständiger Kompromiss ist. So reagierte ich ziemlich unwirsch, als die Jungs, obwohl das Schiff erst um 19.00 Uhr ablegen sollte, plötzlich bereits um 17.00 Uhr an Bord sein wollten und das Schiffsleben, insbesondere das Tischtennisspielen dem Bummeln auf solch einer faszinierenden Vulkaninsel vorzogen.
Wir einigten uns schließlich, dass wir nur noch zu der sehr fotogenen katholischen Kirche Agios Ioannis gehen würden, bevor wir uns wieder auf den beschwerlichen Weg zurück zum alten Hafen begeben würden. So warfen wir nur einen ganz schnellen Blick in die Kirche Mitropolis, die von außen bereits einen architektonischen Blickfang darstellt und von innen mit farbenfrohen Fresken und einem riesigen Kristalleuchter beeindruckt.
Während die Zwillinge, kaum waren wir wie von ihnen gewünscht viel früher als von mir eigentlich geplant bereits auf dem Rückweg zurück zum Tenderhafen, wie die berühmten kretischen Ziegen flink alle 500 Treppenstufen runterwuselten, humpelte ich unter größten Schmerzen hinterher. Machte sich beim Heruntergehen auf den sehr unebenen, über und über mit Eselskot verschmutzten und sehr rutschigen Stufen nicht nur meine übliche Sprunggelenks- und beidseitige Fußfehlstellungsproblematik äußerst schmerzhaft bemerkbar, sondern ebenso stach durch die permanente Belastung beim Runtergehen mein vor einigen Jahren erfolgter und bewusst nicht operierter Kreuzbandriss.
Nach einem spektakulären Auslaufen aus Santorin und einem wie immer viel zu üppigen Abendessen mit zahlreichen Kuchen, Desserts und Eiskugeln en masse, störten mich meine langen Haare, welche seit über einem Jahr aus lauter Zeitmangel keinen Friseur mehr gesehen hatten, so sehr, da sie durch die Sonne und das Meer- und Chlorwasser so verfilzt waren, dass sie auch durch häufiges Bürsten kaum mehr entwirrbar waren, dass ich, kurz bevor ich mich mit dem Älteren mal wieder auf die Suche nach dem Jüngeren begab, mit der Schere, welche ich immer zum Pflasterabschneiden mitführe innerhalb von 3 Sekunden alle Haarspitzen, welche ich zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, in einem Schwung um mehr als 10 Zentimeter abschnitt. Damit, dass die Haare danach so signifikant unterschiedliche Längen aufweisen, hätte ich allerdings nicht gerechnet…
So sehr wir das Reisen mit dem Schiff lieben, so sehr fürchte ich Nacht für Nacht einen zu hohen Wellengang. In der Nacht vor unserer Ankunft in Santorin war dies der Fall, wir hatten deutlich mehr Wind als sonst und die Wellen schlugen zudem noch an die Backborseite, wo unsere Kabine gelegen ist, auf. Bereits vor dem mitternächtlichen ins Bettgehen war mir speiübel. Ob dies nun ausschließlich am Seegang lag, an der völligen Übermüdung wegen zahlreicher nächtlicher Pumpenalarme oder auch an den exorbitant zu großen abendlichen verzehrten Essensmengen geschuldet ist, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls war ich sehr erleichtert, als der Kapitän für die nächste Nacht wieder eine ganz ruhige See angekündigt hatte…
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