Kotor, Katzenplatz, Konflikte, Kapitänskonzentrationsmangel

Ich muss zu meiner großen Schande gestehen, dass ich bis vor wenigen Wochen den etwa 22000 Einwohner fassenden Ort „Kotor“ keinem Land eindeutig zuzuordnen vermochte. Nun wissen wir nicht nur, dass Kotor in Montenegro gelegen ist, sondern auch, dass die Altstadt just in meinem Geburtsjahr zum Weltkulturerbe erklärt worden ist. So viele unterschiedlichste Herrscher es in dieser Stadt gab, mit so vielen verschiedenen Namen wurde sie in den letzten Jahrhunderten auch bezeichnet, die Südslawen habe ihr den äußerst passenden aktuellen Namen vergeben, bedeutet doch „Kot“ auf montenegrinisch „Katze“, von denen es beeindruckend viele über die ganze Stadt zu bestaunen gibt.

An jeder Ecke und auf jedem Platz erwarten einen Katzen jeglichen Alters, die allesamt von der Bevölkerung gut versorgt werden, haben sie es doch genau diesen Tieren zu verdanken, von der schrecklichen Pest befreit worden zu sein. Kotor ist beinahe 2000 Jahre alt und besitzt eine eindrucksvolle Stadtmauer. Zudem gibt es fast ein Dutzend von Kirchen und die berühmte St.-Tryphon- Kathedrale, welcher der Schutzpatron von Kotor ist.

Den Jungs zuliebe wage ich öfters Sachen, welche ich aus freien Stücken wirklich nie auch nur andenken würde. So bekam an unserem Montenegrotag eine dreistündige Tour mit dem Speedboot den Zuschlag der Zwillinge (bei unserer kleinen Reisegruppe bin ich ja leider in der ständigen Unterzahl…), deutlich vor einem entspannten Badeausflug, der mein Favorit gewesen wäre in Kombination mit noch weiteren Kirchenbesichtigungen…

Das Finden eines halbwegs vertrauensvollen Bootanbieters gestaltete sich schon nicht ganz einfach. Als wir überpünktlich am frühen Nachmittag am verabredeten Treffpunkt erschienen waren, telefonierte „unser“ Bootsvermittler wild gestikulierend und musste offenbar noch eine Gruppe von sieben kurzentschlossenen Unternehmungslustigen auf Booten unterbringen. Ich hatte mir unseren Ausflug auf relativ großen Booten vorgestellt und der erste Schreckensmoment durchfuhr bereits meine Glieder, als wir nach über einer halben Stunde Wartezeit in der größten Hitze zu einem sehr kleinen Boot geschoben wurden.

Wir mussten rasch zusteigen und ich erschrak noch mehr, als wir nach wenigen Metern Fahrt noch einmal anhielten, um weitere sieben Personen aufzugabeln. Auf meine ängstliche Frage, wie viele Personen denn das Boot fasse, wurde mir die Zahl „12“ genannt. Diese Zahl überschritten wir mindestens um 25 %. Mein Herz raste, mein Mund war ganz trocken. Und nicht nur, dass wir völlig überladen waren, das Boot pflügte durch die Wellen und je lauter ich vor Angst schrie, desto schneller fuhr der Bootsführer und legte sich dabei immer mehr zu meinem großen Entsetzen in die Kurven.

Den offenbar bereits sehr frühzeitig erfolgten, fast vollständigen Verlust seiner Zähne schien der etwa Mittvierziger durch das Beschleunigen des Speedbootes auf ein Maximum kompensieren zu wollen. Mir blieb immer wieder das Herz fast stehen. Und auch unser armer Älterer wurde immer panischer und rief: „Mama, ich halt das nicht mehr aus! Mein Herz ist die ganze Zeit am Rasen. Frag, wann wir endlich anhalten. Oder müssen wir jetzt ganze drei Stunden auf diesem Boot bleiben?“ schob er seine bange Frage nach.

Der Bootsführer rief mir in der Zeit zu: „Don’t worry. It’s not a car, it’s a boat, that’s normal.“ Naja, was ist schon normal? Ganz und gar nicht normal, sondern ausgesprochen beängstigend empfand ich auf alle Fälle die Tatsache, dass der Kapitän einzig dann von seinem Handy während der gesamten halsbrecherischen Fahrt aufsah, wann immer er sich erneut eine Zigarette ansteckte und/oder ein pappsüßes, weiches Gebäckteilchen in seinen zahnlosen Mund schob.

Nach einiger Zeit war ich schon für all die Minuten dankbar, in denen er sich das Handy nur an sein Ohr hielt, um offenbar nicht endende Sprachnachrichten abzuhören. Dabei hatte ich die Hoffnung, dass er wenigstens noch seinen Blick auf den turbulenten maritimen Ausflugsverkehr in der Bucht von Kotor schweifen ließ. Als er jedoch immer wieder minutenlang einzig auf seinen Handybildschirm gebannt starrte, kam mir die Erinnerung an einige, ausgesprochen tragische Zug- und Bootsunfälle der vergangenen Jahre in den Sinn, bei denen auch stets ein absoluter Konzentrationsmangel des Fahrzeugführers aufgrund der Fremdbeschäftigung mit dem Handy äußerst tragische Unglücke mit vielen Toten zur Folge gehabt hatte.

Bei der blauen Lagune mit letzter Kraft angekommen waren meine Beine gelähmt von Angst und so steif, dass ich mich kaum bücken konnte, um den Jungs eine kleine Stärkung aus dem Rucksack reichen zu können. Noch weniger hätte ich mir vorstellen können, uns drei bei dem vorgesehenen Badestopp neben der blauen Grotte schwimmfertig zu machen. Allerdings schaukelte das Schiff beim Halten dermaßen auf den Wellen hin und her, dass mir speiübel wurde.

So sprangen wir nolens volens in das Wasser. Noch nie war das Abkleben des Sensors und des Katheters bei den Zwillingen so anstrengend. Wir fuhren anschließend noch in einen Marinetunnel, der dem sicheren Versteck der Boote im Jugoslawienkrieg diente und ich war heilfroh, als wir nach guten zwei Stunden mit dem Älteren auf meinem Schoß, was uns beide ein wenig beruhigte, endlich bei der Inselkirche Gospa od Škrp Jela ankamen, die auf versunkenen Schiffswracks und aufgetragenen Steinen steht.

Ruhe war mir leider selbst nach dieser abenteuerlichen Bootsfahrt am Abend auf unserem großen Schiff nicht vergönnt. Während dieses ruhig auf dem spiegelglatten Meer in Richtung Dubrovnik fuhr, gab es beim Tischtennisspielen erneut großen Ärger zwischen den Zwillingen und einem offenbar extrem rücksichtslosem Teenager, welcher unserem Älteren den Schläger entriss, ihn beschimpfte und sich einige andere Missetaten zu schulde kommen ließ. Wie gerne hätte ich den Jungs für einen positiven Tagesausklang ihren Getränkewunsch vollkommen sorglos erfüllt.

Liegt mir fast immer das Gefühl von Neid völlig fern – „unter jedem Dach wohnt ein Ach…“- hadere ich dann und wann doch etwas, wann immer ich in den unpassendsten Zeiten wie mitten in der Nacht plötzlich einen unerwartet ausgefallenen Blutzuckersensor zu stechen habe oder auch die Hautstelle so zuschwillt, dass kein Insulin mehr durchfließen kann und unverzüglich ein neues Infusionsset gesetzt werden muss oder auch, wenn vor jedem Gang ins Wasser erst einmal alles Diabetesequipment abgekoppelt bzw. entsprechend fixiert und verklebt werden müssen.

Wie gerne würde ich die Jungs sich bei jedem Essen – wie alle anderen gesunden Kinder dieses völlig selbstverständlich machen – nach Herzenslust alles auf den Teller häufen lassen, ohne vorher die jeweiligen Speisen abwiegen und die Kohlehydratmenge akribisch zu berechnen müssen. Diabetesbedingt gibt es bei uns klassischerweise ausschließlich Wasser zu trinken und in jedem Urlaub gerate ich immer wieder in Gewissenskonflikte.

Setze ich doch wirklich Tag für Tag und Nacht für Nacht wirklich alles dran, um bestmögliche Blutzuckerwerte bei beiden zu garantieren, andererseits sind es neunjährige Jungs, denen ich ein so unbeschwertes Leben wie es nur irgendwie geht ermöglichen möchte.

So kämpfte ich sehr mit mir, als sie plötzlich zu einer so späten Abendstunde, dass sie normalerweise schon längst im Bett gewesen wären, zu mir atemlos kamen und ganz aufgeregt riefen: „Unser neuer Freund, der Lutz, will uns einen Cocktail spendieren, dürfen wir den trinken?“ Ich zuckte innerlich zusammen, war mir doch völlig klar, dass der Genuss eines Kindercocktails gegen 23.00 Uhr für mich eine extrem unruhige Nacht bedeuten würde, da mit katastrophalen Blutzuckerwerten zu rechnen war, allerdings brachte ich es auch nicht über das Herz, ihnen diese – für stoffwechselgesunde Kinder so banale – Freude zu verbieten.

So durften sie auf diesen sehr erlebnisreichen Tag mit einem bunten Cocktail anstoßen und freuten sich sehr, auch wenn dieser spätabendliche Genuss für mich leider tatsächlich aufgrund einiger nächtlicher zusätzlicher Insulingaben eine – mal wieder – äußerst schlafarme Nacht für mich zur Folge hatte.

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