Anders als die meisten Menschen, die tendenziell in der Nacht vom Sonntag auf Montag zu einem schlechteren und kürzeren Schlaf neigen, verbringe ich stets die kürzeste Nacht zu Schulzeiten von Montag auf Dienstag. Von den 11 Dienstagen, welche das noch relativ neue Schuljahr bis jetzt aufzuweisen hat, waren immerhin 6 Dienstage von Diabeteszwischenfällen bei unseren Zwillingssöhnen geprägt, deren Anzahl bei den anderen vier Wochentagen deutlich geringer ausfällt. Wir hatten bei beiden Söhnen an den Dienstagen aufgrund plötzlich nächtlich verstopfter Katheter der Insulinpumpen bereits Ketoazidosen wegen extrem hoher Blutzuckerwerte, große Abgeschlagenheit wegen zahlreicher nächtlicher Unterzuckerungen und vieles mehr zu bewältigen.
In der Nacht von Montag auf Dienstag der vergangenen Woche kann man allerdings in keiner Weise von dem sogenannten „self fulfilling prophecy“-effekt sprechen, beherrschten mich doch so viele andere Sorgen, dass ich gar nicht dazu kam, mich vor dem Dienstagvormittag bezüglich eines Diabeteszwischenfalls zu fürchten. Viel mehr bereitete ich mich auf die jeweils neunstündige Französischfortbildung am Dienstag und Mittwoch vor und plante, wie ich ab Mittag gleichzeitig für die Jungs da sein und der Fortbildung lauschen konnte. Anders als bei vielen anderen Fortbildungen zeichnet sich die Schulung zum „examinateur/correcteur du DELF“ durch eine hohe Aktivitätsrate aller teilnehmender Lehrkräfte aus, so dass ich meine gesamte Konzentration auf diese richtete.
Gerade, als uns die Dozentin den ersten Test, für dessen Bearbeitung 20 Minuten veranschlagt waren und dessen Ankündigung allein meinen Pulsschlag bereits exorbitant erhöht hatte, zukommen ließ, klingelte das Telefon und die Sekretärin der Grundschule unserer Söhne vermeldete: „Eine Mitschülerin hat Ihrem Sohn gerade aus Versehen den Blutzuckersensor rausgerissen. Können Sie bitte gleich kommen?“ „Ich bin in einer wichtigen Prüfung“, stammelte ich nervös, „aber schicken Sie ihn einfach gleich nach Hause zu mir. Ich eilte wieder an den Computer zurück und bearbeitete so zügig es ging den Test. Die letzten Minuten, welche die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf das Bearbeiten desselbigen verwendeten, benötigte ich für das Desinfizieren der Hautstelle und Stechen eines neuen Blutzuckersensors, alles vor laufender Kamera….
Pünktlich zum Abgabeschluss des Tests startete ich den neugestochenen Blutzuckersensor. Eine Viertelstunde, nachdem ich unseren jüngeren Sohn in die Schule zurück verabschiedet hatte, stand bereits der Zwillingsbruder vor der Tür, der ganz planmäßig dienstags immer nur vier Stunden Schule hat. Während sich dieser gleich sehr brav, ohne bei meiner Fortbildung zu stören, der ausgiebigen Beschäftigung mit seiner exorbitant großen Fußballkartensammlung hingab, klingelte es abermals an der Tür und eine Freundin klagte mir ihr Leid, dass sie in einer Stunde einen Termin beim Landratsamt zum Führerscheintausch hätte und dafür dringend Formulare ausgedrückt werden müssten, der Drucker jedoch plötzlich den Geist aufgegeben hätte. So jonglierte ich zwischen dem konzentrierten Lauschen der Fortbildungsinhalte und dem Raussuchen der notwendigen zu druckenden Formulare für das Landratsamt hin und her. Dabei hatte ich die Uhr immer fest im Blick, wann ich mit den Mittagsessensvorbereitungen beginnen musste.
Während ich die anderen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer nach dem Ende der einstündigen Mittagspause entspannt an ihrem Verdauungskaffee nippen sah, hatte ich es in dieser Zeit gerade einmal geschafft nach einer kleinen Gassirunde mit unserer Nora, das Mittagessen zu kochen, abzuwiegen und die dafür benötigte Insulinmenge zu berechnen.
Mein Magen knurrte daher am frühen Nachmittag so laut, dass ich versuchte, möglichst verstohlen während der laufenden Fortbildung und der ständig erforderlichen angeschalteten Kamera immer wieder ein paar Gabeln meines in der Nacht zuvor vorgekochten Ofengemüses in den Mund zu schieben. Mein Magen hatte sich lautstark beschwert, um ein Vielfaches lauter war allerdings das ununterbrochene Gegacker unserer mittleren Tochter und deren Freundin, die sich offiziell auf ein Referat vorbereiteten, den Geräuschen zu entnehmen, aber eher einfach nur sehr viel Spaß miteinander zu haben schienen.
Die kurzen Kicherpausen füllten unsere Zwillinge durch das geräuschintensive Kickerspielen im Wohnzimmer gebührend auf. Das Ballgeklacker und das permanente schwungvolle Drehen an allen Kickerstangen drangen so laut in meinen Arbeitskeller, dass ich den Computerlautsprecher auf die maximale Lautstärke stellen musste, um zumindest akustisch alles von der Französischfortbildung mitzubekommen.
Trotz häufigem Telefongeläute und unaufschiebbaren Suchaufträgen – unser älterer Sohn hatte sich bereits dem Basteln von Christbaumschmuck verschrieben und benötigte dafür dringend das Geschenkband, das plötzlich spurlos verschwunden war, bis ich es unter zahlreichen Verfluchungen meinerseits aus dem Kinderzimmerchaos unserer mittleren Tochter gefischt hatte – sowie dem Erscheinen eines Klassenkameraden unseres Älteren, der uns um das Abfotografieren der aktuellen Hausaufgaben bat und dessen Mutter sich anschließend beschwerte, dass diese ja schon von unserem Sohn ausgefüllt seien…, schaffte ich auch die Bearbeitung der nachmittägliche Tests und konnte mich bei der Besprechung einer im Plenum ausführlich exemplarisch besprochenen Korrektur eines Prüfungsteils einer DELF-prüfung darüber freuen, dass meine vorgeschlagene Punktebewertung genau der unserer Fortbildungsleiterin entsprach.
Dass nicht nur die Dienstage, sondern ebenso andere Tage – wenn auch in signifikant geringerer Frequenz – Widrigkeiten aufweisen können, bewies der gestrige Samstag, welcher durch die ungewöhnlich starken Schneefälle die Kinderherzen rundherum erfreute, mir jedoch schon beim Gedanken an die bevorstehende Autofahrt zur Palliativstation der barmherzigen Brüder die Sorgenfalten auf die Stirn schrieb. Unter normalen Umständen wäre ich bei dieser Wetterlage nie ins Auto gestiegen, aber da der Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel ganztägig eingestellt war und ich unbedingt meinen Vater besuchen wollte, blieb mir für die etwas über 20 km lange Fahrt nach Nymphenburg einzig die Fahrt mit dem Auto. Schon die ersten Meter waren eine Herausforderung. In Kombination mit Stau auf der Landstraße sowie auf Teilen der Autobahn benötigte ich für die Strecke, welche ich normalerweise in einer halben Stunde bewältige, mehr als dreimal so lang.
Als ich endlich am späten Nachmittag in Nymphenburg eintraf, erwies sich die Parkplatzsuche als ausgesprochen schwierig bis unmöglich, waren doch entweder all die kleinen Seitenstraßen rund um das Krankenhaus von mit Schnee überbordenden Autos besetzt oder waren aber die raren Parklücken unerreichbar, da aufgrund der vereinzelt fahrenden Schneeräumfahrzeuge ein zusätzlicher Schneewall die Parkplätze von den jeweiligen Straßen trennte. Zunehmend verzweifelter fuhr ich Straße um Straße auf der Suche nach einem Parkplatz ab. Die Straßen waren so schmal, dass man bei jedem entgegenkommendem Fahrzeug gewagte Ausweichmanöver durchführen musste. Vor Anstrengung und Verzweiflung liefen mir bereits die Tränen über das Gesicht, als ich in einer Seitenstraße einen Parkplatz entdeckte. Wenige Meter vor der rettenden Bucht kam unser VW-bus plötzlich ins Schlittern und wurde – glücklicherweise – durch kein anderes Auto, sondern durch einen großen Schneehaufen gestoppt.
Dies allerdings so gründlich, dass es mir nicht gelang, das Auto auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Die Lage war besonders misslich, blockierte ich doch auf diese Weise die gesamte Straße. Auch die Anschiebversuche eines vorbeikommenden Taxifahrers und dessen Fahrgast verliefen erfolglos und meine Verzweiflung verbunden mit einem immer stärker werdendem Frieren – hatte ich mich doch kleidungsmäßig auf keinen längeren Aufenthalt bei der Eiseskälte eingestellt – wurde immer größer. Plötzlich erschien ein sehr freundliches Ehepaar, das meine missliche Lage sofort erkannte und mir seine Hilfe anbot. Und tatsächlich vollbrachte der Mann, als ich ihm unseren Autoschlüssel überreichte das absolute Wunder und schaffte es unglaublicherweise nicht nur meisterhaft unser Auto wieder zum Fahren zu bringen, sondern parkte es zugleich liebenswürdigerweise vor der benachbarten Ausfahrt seines Hauses, so dass ich mich zu meinem Vater aufmachen konnte, begleitet allerdings von den Sorgen, wie mir danach das Ausparken und das Fahren auf der spiegelglatten und tief verschneiten Straße gelingen sollte.
Und leider erwies ich mich dabei auch nicht als wirklich fähig. Ich parkte so unglücklich aus, dass sich meine arme Mutter auf dem Beifahrersitz sitzend nur einen Zentimeter neben einem weiteren geparkten VW-bus befand. Ich war so dahin geschlittert, dass wir abermals blockiert waren und die Räder bei meinen wiederholten Fahrversuchen nur noch jämmerlich durchdrehten. Es war mir ungeheuer peinlich, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als auf das rührende Angebot des lieben dort wohnenden Ehepaars zurückzukommen. So klingelte ich bangen Mutes an deren Haustür und bat abermals um Hilfe. Mir erschien die Situation als vollkommen aussichtslos und ich war mir sehr wohl bewusst, was ich dem armen Mann zumutete, da unser Auto wirklich so nah an dem anderen Auto dranklebte, dass die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes fast unvermeidlich erschien.
Dennoch war der so hilfsbereite und absolut fahrerfahrene Herr so lieb und schaufelte sogar eigenhändig den pappigen Schnee von den Reifen, bis ihm das für mich vollkommen Unvorstellbare gelang und er es schaffte, ohne auch nur das direkt daneben parkende Auto im Ansatz zu touchieren, unser Auto auf die Fahrbahn zu bringen, so dass ich erst meine Mutter gut in Richtung Heimat bringen konnte, um dann selbst endlich wieder zur Familie zu fahren. Ich bin diesem hilfsbereiten Ehepaar wirklich so unglaublich dankbar, dass sie mir als wahre Schutzengel in dieser für mich vollkommen aussichtslosen Situation beistanden. Und so kann jeder Wochentag, egal ob ein Dienstag oder ein Samstag oder welcher Tag auch immer neben vielen Schwierigkeiten auch wahrliche Erlösungsmomente bereithalten.
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